Lustnebel
neuen Farbe. An einigen Stellen war der Anstrich noch feucht, und auch die aufgemalte Borte fehlte noch. Der Geruch nach Farbe war so intensiv, dass Rowena die Fenster öffnete. Das Wetter ließ ausnahmsweise einen Blick in die Ferne zu, und so gönnte sie sich einige Atemzüge am Fenster. Die hereinströmende Luft war mild und trug den Duft von Heu und Blumen heran. Vom Hof her hörte sie die Rufe der Arbeiter, irgendwo knallte eine Tür, und ein Pferd wieherte.
Kies knirschte unter eilenden Schritten, und Rowena entdeckte einen Arbeiter, der zu den Anbauten des Herrenhauses rannte. Die Wiese strahlte in sattem Smaragdgrün, während weiter hinten die Bäume des Wäldchens fast schon schwarzgrün wirkten. Auf einer der Eichen hockte ein Turteltäubchen-Pärchen, das Rowena ein Lächeln entlockte. Etwas entfernt erstreckte sich eine Moorwiese. Die harten Grasbüschel, die dort wuchsen, fraßen nicht einmal die Schafe, die dort so zahlreich umherflanierten. Ihr Blöken war bis zu Rowena hinauf zu hören. Rundherum erhoben sich Hügel und Berge in buntem Wechsel von grün, braun, grau. An diesigen Tagen mit Nebel dick wie Cremesuppe war es wunderschön, faszinierend, unheimlich, doch an einem Tag wie heute, mit klarer Sicht bis zu den Gipfeln, war es schlicht atemberaubend. Es brachte die Seele zum Klingen, es konnte einem heimwehkranken Menschen das Herz brechen, weil es so wunderschön war. So schön, dass man alles andere vergessen wollte, vergessen, was nie zu vergessen war. Rowena schluckte und wandte sich ab.
Mit einem Mal stand ihr Claires Gesicht überdeutlich vor Augen. Das Blau des Himmels erinnerte sie fatal an Claire. Claire, liebe, quirlige Claire. Wie hatte sie sie nur vergessen können? All die Wochen hier auf Barnard Hall hatte sie kaum an sie gedacht. Stattdessen kümmerte sie sich um das Haus, um die Angestellten und um Chayton. Das hatte Claire nicht verdient. Rowena blinzelte die Tränen fort. Sie wollte sich nicht schuldig fühlen. Sie sehnte sich danach, endlich einen Schlussstrich unter die unselige Erfahrung mit dem Hellfire Club ziehen zu können. Sie wünschte sich, Claires Mörder möge gefasst werden. Dann, erst dann, vergäbe sie sich selbst.
Sie ging zum Schrank und stellte die Schachtel mit den Schlüsseln sorgfältig auf die Ablage. Sie hatte entschieden, dass der Kabinettschrank an der gegenüberliegenden Wand besser zur Geltung käme, und so war es notwendig, das Möbelstück auszuräumen.
Sie durchforstete den Inhalt des Kistchens nach einem Schlüssel, der zu den Kabinetttürchen passen konnte. Der fünfte Schlüssel, den sie ausprobierte, passte. Rowena schob ihn vorsichtig hinein und drehte ihn herum. Mühelos öffnete sich das Schloss. Im ersten Fach gab es nichts weiter als silberne Kerzenleuchter, die dringend einer Reinigung bedurften. Das Metall erwies sich als angelaufen, grün schillernd und teils schwarz verfärbt. Hinter dem zweiten Türchen fand Rowena ein Teeservice aus Silber, ähnlich vernachlässigt, doch wunderschön gearbeitet und zweifellos wertvoll. Mit wachsender Neugier zog sie eine große Schublade auf. Diese ließ sich nur unter großer Mühe hervorziehen, und schon auf den ersten Zentimetern schlug Rowena modriger Geruch entgegen.
Folianten lagen in der Schublade. Einige sahen so alt und wertvoll aus, dass Rowena nicht wagte, sie zu berühren. Verwirrt musterte sie die Kostbarkeiten, die sie bisher gefunden hatte. Offenbar war sie auf den Familienschatz der Windermeres gestoßen. Sie schob die Schublade zu und wandte sich den drei letzten, kleineren Schubfächern zu. Schnell waren die Schlüssel gefunden. Die Fächer bargen Gegenstände, die in Seidentücher eingeschlagen waren.
Eins nach dem anderen besah sich Rowena und stellte fest, dass es sich tatsächlich um den Familienschmuck handeln musste. Armbänder, Ringe, Halsketten aus wertvollsten Juwelen und Gold und Silber boten sich ihren Blicken dar. Begeistert sah sie die Schätze der ersten beiden Schmuckfächer durch. Ein unbestimmtes Gefühl ließ sie bei der dritten Schublade einen Moment innehalten. Sie schloss die Augen, ehe sie hineinsah. Der Inhalt war ebenfalls in Stoff gehüllt, doch es war billiger Baumwollstoff, und dem Geruch nach Salz und Meer nach zu schließen, hatten die Objekte eine ausgedehnte Reise hinter sich.
Rowenas Herz klopfte schneller. Sie befreite den ersten Gegenstand und hielt ein riesiges, zwanzig Zentimeter langes einschneidiges Messer in der Hand. Die
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