Lustnebel
Entenschnabelspitze und die Gravur wiesen es als Fabrikat der Washington Works aus. Einige Kratzer an der Klinge und am Horngriff zeigten, dass es sich um ein gebrauchtes Bowie-Messer handelte. Rowena wickelte es wieder ein und legte es zurück. Als Nächstes öffnete sie ein großes Taschentuch, das an einer Seite ausgefranst war. Es war eins dieser Tücher, die man eher beim Landvolk denn bei Adelsangehörigen fand, und auch der Inhalt legte den Verdacht nahe. Es enthielt eine leere, einfache Tabaksdose, eine blonde Haarlocke und ein kleines, flaches Paket, das in Ölpapier eingewickelt war.
Sie zögerte kurz, dann löste sie das Band, welches das Ganze verschnürte. Kurz darauf hielt sie eine abgegriffene Ausgabe von Daniel Defoes „Robinson Crusoe“ in der Hand. Grübelnd betrachtete sie die Gegenstände. Keiner war von materiellem Wert, aber jemand lag so viel daran, dass er sie in diesem Schrank verwahrte. Sie legte das Buch zurück, und dabei fiel etwas aus den Seiten heraus. Rowena bückte sich und hob das Foto auf. Eine Daguerreotypie, die in einem alten Buch aufbewahrt wurde?
Interessiert sah Rowena auf das Bild und erstarrte. Sie kannte die Personen, die darauf abgebildet waren. Der eine war eindeutig Chayton. Wenn auch angetan mit fremdartigen Kleidern, offenem Haar, in das Federn und Perlen eingeflochten waren, und einem Speer in der Hand. Der andere Mann war Lex. Seine Augen, deren Funkeln selbst ein totes Objekt wie ein Foto einfangen konnte, die sinnlichen Lippen und das volle Haar waren unverkennbar. Die Art, wie Chaytons Hand auf Lex’ Schulter lag und dieser wiederum seinen Kopf an Chayton lehnte, sagte mehr aus, als Worte gekonnt hätten.
Eifersucht flammte in Rowena auf. Im nächsten Moment zuckte sie erschrocken zusammen und stolperte nach hinten.
Chayton hatte ihr die Daguerrotypie aus der Hand gerissen und presste das Foto an seine Brust. Er trug Reitkleidung und war offensichtlich gerade erst von seinem Besuch zurückgekehrt. „Was schnüffelst du herum?“, fuhr er sie an.
Rowena verneinte. „Ich wollte nicht in deinen privaten Besitztümern wühlen“, begann sie, dann schüttelte sie den Kopf. „Dieser Mann …“
In Chaytons Miene tobte ein Sturm der Gefühle. Seine Augen blickten wild und schuldbewusst und sehnsüchtig zugleich. „Dieser Mann hat einen Namen“, herrschte er sie an.
„Lex“, raunte Rowena, so leise, dass es Chayton gewiss nicht vernommen hatte.
Sie wusste zu genau, wer Lex für Chayton gewesen war. Auch ohne die eigenartigen Träume hätte sie spätestens jetzt die Wahrheit gewusst, allein durch Chaytons Reaktion.
„Chayton.“ Sie streckte ihre Hand nach ihm aus, doch er wich zurück.
Er blickte sie wild an, Trauer umwölkte seinen Blick. „Sein Name war Lex Miller, und wir haben uns geliebt“, brach es aus ihm hervor. Sein Brustkorb hob und senkte sich hektisch, und er starrte Rowena durchdringend an. Lauernd. Als warte er auf eine bestimmte Verhaltensweise. Sie nickte, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte.
„Du bist nicht nur mit einem Wilden verheiratet, sondern auch gleichzeitig mit einem Homophilen“, schleuderte er ihr aufgebracht entgegen.
„Du musst ihn wirklich sehr geliebt haben“, erwiderte Rowena ruhig.
Chayton blinzelte und stieß zitternd Luft aus. „Das habe ich. Er war Teil meines Lebens“, bestätigte er aufgewühlt.
Das Holz des Schrankes schmerzte in ihrem Rücken, weil sie sich so fest dagegen presste. Sie atmete ein, eine Mischung aus Erleichterung, Eifersucht und Bedauern erfüllte sie.
„Was ist passiert?“, hakte sie mitfühlend nach.
Chaytons Augen verrieten die Tiefe seiner Emotionen, und es versetzte ihr einen Stich, dass es nicht sie war, die diese Gefühle auslöste.
Teilnahmsvoll streckte sie ihre Hand nach ihm aus, doch er wich zurück. Fast zornig funkelte er sie an, dann drehte er sich um und verließ den Raum, als wären Dämonen hinter ihm her.
Der Knall der Zimmertür ließ die Wände wackeln und hallte in Rowenas Ohren. Die Traurigkeit drückte in ihrer Kehle. Ihre Finger vergruben sich in den Falten ihres Rockes. Was auch immer zwischen Lex und Chayton vorgefallen war, Chayton war noch nicht darüber hinweg. Es schmerzte Rowena zutiefst, dass er ihr so wenig zu vertrauen schien, dass er ihr nichts erzählen wollte. Fast noch mehr ging ihr das Wissen nahe, dass sie mit einem Mann um Chaytons Liebe konkurrieren musste. Was empfand er für sie, wenn seine wahre Neigung Männern galt? Weshalb
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