Lustnebel
brummte er.
Er beugte sich vor und stellte sein Gedeck vor sich auf den Tisch. „Mylady, wäre es möglich, wenn es nicht allzu unverschämt erscheint, einen Schluck Brandy zu bekommen?“
Verwirrt nickte Rowena. Sie erhob sich und trat zum Kabinettschrank, in dem eine Auswahl Alkoholika verwahrt wurde. Sie goss Brandy in einen Cognacschwenker und schrak zusammen, als plötzlich eine herrische Stimme von der Tür her erklang: „Was hat das zu bedeuten?“ Brandy ergoss sich über ihre Finger, weil sie so heftig zusammenzuckte. Im nächsten Moment schepperte es, gefolgt von einem hellen Klirren, als Geschirr zu Boden fiel und in tausend Scherben zersprang.
„Oh nein!“, kreischte Alice. „Wie ungeschickt von mir. Schnell, wir brauchen etwas, um den Tee aufzuwischen. Das schöne Parkett! Das wertvolle Porzellan, was für ein Unglück! Vergebt mir, Rowena.“
Rowena drehte sich herum. Alice stand da und blickte bestürzt auf die Überreste des Teegedecks, das sie wohl versehentlich vom Tisch gefegt hatte. Vermutlich erschrak sie über Chaytons Auftauchen ebenso wie Rowena. Chayton baute sich vor den Cuthberts auf. An seiner Miene erkannte Rowena, dass er über den Besuch wenig erfreut schien.
„Alice, Mr. Cuthbert, dies ist mein Gatte, Chayton Bannister, Marquess of Windermere. Chayton, darf ich dir Alice Cuthbert und ihren Gemahl Wilson Cuthbert vorstellen?“
Alice starrte Chayton an, als stünde sie dem sprichwörtlichen Schwarzen Mann gegenüber. Diese Art Schüchternheit passte nicht zu Alice, und einen Moment lang überlegte Rowena, was Alice derart verstörte.
Angst und Überraschung gehörten nicht zu Wilsons Gefühlsleben, wenigstens nicht in dieser Situation. Er starrte Chayton mit einer Faszination an, die man einem wilden Tier zugestand, aber gewiss keinem Menschen.
Chayton runzelte die Stirn und klingelte nach dem Dienstmädchen, ehe er sich Rowena zuwandte. „Ich habe zu tun.“ Seine Miene war unergründlich. Doch Rowena erriet auch so, was in ihm vorging. Begafft zu werden wie eine Jahrmarktsattraktion oder ein gefährliches Tier, behagte keinem Menschen, der auch nur ansatzweise Gefühle besaß. „Deine Gäste verabschieden sich jetzt. Sie haben bestimmt ebenfalls Besseres zu tun, als dir die Zeit zu vertreiben. “
Ehe er aus dem Raum stapfte, warf Chayton den Cuthberts einen warnenden Blick zu, den Rowena nicht recht einzuordnen wusste.
„Lord Windermere ist ein Lakota. Sein Großonkel war der verstorbene Lord Windermere“, fühlte sie sich bemüßigt, ihren Gästen Chaytons exotische Herkunft zu erklären.
Das Hausmädchen trat in den Raum und beseitigte das Malheur auf dem Fußboden. Weder Rowena noch die Cuthberts sprachen in dieser Zeit ein Wort. Doch die Cuthberts wirkten nervös und eingeschüchtert. Als die Bedienstete den Salon verließ, hatte sich Alice wieder so weit gefasst, dass sie sich mit sorgenvoller Miene an Rowena wandte.
„Meine Liebe, es ist ein Jammer.“ Sie beugte sich vor und drückte Rowenas Hand mitfühlend.
„Ich verstehe nicht.“ Rowenas Verwirrung wuchs, als Alice ihren Kopf schüttelte.
„Ich habe das in London zu oft miterleben müssen.“
Alice streichelte Rowenas Hand, und ein Hauch von Alices Parfüm streifte ihre Nase. Rowena wunderte sich beiläufig über die ungewöhnliche Duftnote, Kampfer, doch dann schob sie den Gedanken beiseite, vielleicht hatte die Arme Probleme mit Rheuma oder Ähnlichem. Die Spitzenabschlüsse des Ärmels von Alices Kleid kitzelten über Rowenas Haut. Ein weiches Gleiten, offenbar hatten die Cuthberts einmal bessere Zeiten erlebt. Oder sie verfügten über mehr Vermögen, als es den Anschein hatte. Filigrane Spitze wie diese war erschwinglich, doch in Gesellschaftskreisen, in denen Alice und Wilson sich scheinbar bewegten, eher die Ausnahme.
„Rowena, meine Liebe, es steht mir nicht zu, dies zu sagen, doch ich bin beunruhigt. Versprecht mir, dass Ihr nicht zögern werdet, meine Hilfe zu suchen, sollte es nötig werden.“ Alice biss sich auf die vollen Lippen. Noch einmal drückte sie Rowenas Hand. Rowena nickte, obwohl sie nicht verstand, was Alice ihr zu sagen versuchte. „Natürlich nicht“, äußerte sich Alice, als hätte sie Rowenas Gedanken gelesen. „Ihr wisst nichts von Männern, die Frauen ins Verderben führen. Von Männern, die in einer Frau langsam Verzweiflung und Todessehnsucht auslösen.“ Nervös blickte Alice zur Tür, als fürchtete sie, jemand könnte jeden Augenblick
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