Lustnebel
Verspätung.“
Rowena streckte die Hand aus. „Darüber bin ich mir im Klaren.“
„Lord Windermere beharrte darauf, der Erste zu sein, der einen Blick in die Zeitung wirft. Er hat diese Ausgabe extra angefordert. Sie ist schon Wochen alt“, unternahm Cain einen Versuch, die Zeitung zurückzuhalten. Sein ohnehin schiefes Gesicht verzog sich beunruhigt.
„Himmel, solange Lord Windermere nicht steckbrieflich gesucht wird, gibt es kaum einen Grund, mir die Zeitung vorzuenthalten!“, schnappte Rowena. „Außerdem ist es, wie du eben erwähnt hast, eine alte Ausgabe. Es wird wohl kaum etwas darin zu lesen sein, was mir nicht bereits bekannt ist!“ Cain starrte sie einen Moment reglos an. Rowena streckte fordernd ihre Hand aus, woraufhin ihr Cain das Silbertablett reichte.
Das Papier war noch warm vom Bügeleisen, und Rowena nickte ihm zufrieden zu. „Du bist ein hervorragender Butler, Cain. Wie schön, dass du daran gedacht hast, die Zeitung ordentlich herzurichten.“
Cain errötete über das Lob, bedankte sich und zog sich zurück.
Kopfschüttelnd machte sie sich über die Lektüre her. Sie hob die Kaffeetasse an ihre Lippen, während sie die Schlagzeilen überflog. Das Journal war ein paar Tage nach Rowenas und Chaytons Abreise aus London erschienen. Zwei Meldungen fesselten ihre Aufmerksamkeit. In der einen ging es um den neuerlichen Mord an einer Frau. Ihre Leiche wurde unweit eines wohlsituierten Stadtteils gefunden. Die Dame besaß im Gegensatz zu all den anderen Opfern keinen erstklassigen Leumund. Ihr Ruf wies sie als lebenslustige, frivole Witwe aus, und laut Aussage ihrer besten Freundin war sie am Mordabend zu einer geheimen Orgie einer lasterhaften Gruppierung eingeladen worden. Im Nachlass der Dame befand sich eine Einladung eines Hellfire Club . Und über eine weitere Besonderheit wusste der Reporter zu berichten: Die blondhaarige Witwe war regelrecht massakriert worden. Scotland Yard ließ vernehmen, der Mörder könne diesmal durch blutbespritzte Kleidung auffällig geworden sein.
Die Worte massakriert und blutbespritzt trafen Rowena wie Fausthiebe. Blutbespritzt und massakriert, dröhnte es wieder und wieder in ihrem Schädel. Sie stellte ihre Tasse unsanft ab, und der Kaffee schwappte über. Sie zerknüllte die Zeitung zerstreut und aufgewühlt zugleich.
Sie erinnerte sich noch zu genau an diesen einen Morgen, als sie unvermutet Chaytons Gemach betreten und ihn in desaströsem Zustand vorgefunden hatte: Blutbesudelt von Kopf bis Fuß. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Brust, unbarmherzig hart, sodass sein Schlagen an ihren Rippen schmerzte. Sie hatte in den Wochen auf dem Land, zusammen mit Chayton, ihr Misstrauen verloren und war viel zu vertrauensselig geworden. Sie hatte Zeit mit ihm verbracht und hatte ihn näher kennengelernt. Doch genauso wenig wie eine Schwalbe einen Sommer machte, machte ein Ortswechsel aus einem Mörder einen Wohltäter. Rowena presste die flache Hand auf den Mund. Ihr wurde klar, wessen sie Chayton verdächtigte. Konnte es wahr sein? Steckte er hinter den Morden? Sie zwang sich, die vorliegenden Beweise in ihrem Kopf zu ordnen. Letztendlich kam sie zu keinem Ergebnis. Es konnte Zufall sein. Sie hatten sich schließlich erst bei Turnbull kennengelernt, und im Hellfire Club waren alle Teilnehmer maskiert.
Vielleicht hat er deinen nackten Körper wiedererkannt, flüsterte ihr Verstand.
„Schluss“, befahl sie laut. Zitternd strich sie die Zeitung glatt und las weiter. Es gab wie zuvor weder Zeugen noch weitere Spuren. Ein anderer Artikel erwähnte den Unfalltod eines Dienstmädchens, doch scheinbar nur deshalb, weil Rowena darin verwickelt gewesen war. Der Berichterstatter ging mehr auf diesen Umstand ein als auf das getötete Mädchen. Frustriert warf Rowena die Zeitung beiseite. Immerhin gab es einen kleinen Hoffnungsschimmer, ein Augenzeuge hatte sich gemeldet, und dieser Zeuge behauptete, der Todesreiter sei ein blonder Mann gewesen. Blond. Ein blonder Mann. Chayton war alles andere als hellhaarig. Niemand würde Chayton mit einem Europäer verwechseln. Erleichterung sickerte durch jede ihrer Poren. Der Klumpen in ihrem Magen löste sich langsam auf, und sie schluckte die Überreste ihrer Panik hinunter.
Um sich abzulenken, beschloss sie, sich um den Kabinettschrank zu kümmern.
Wenig später stand sie mit einer Schachtel unterschiedlichster Schlüssel vor dem Schrank.
Die Männer hatten gute und schnelle Arbeit geleistet. Die Wände strahlten in der
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