Lustvolles Erwachen
Überraschend für einen Mann, der vorgab, alles Verzierte nicht zu mögen. Beweise für diejenigen, die ihn für geldgierig hielten – vor allem, da er so lange in Konstantinopel gelebt hatte. Mit den Edelsteinen allein hätte man Longbridge fünf Jahre lang unterhalten können.
Aber andererseits wusste Grace besser als die meisten anderen, wie großzügig Geschenke vor allem im Osten ausfielen. Für einen Moment sah sie sich selbst als Fünfzehnjährige. Sie hatte die Hand ausgestreckt, und jemand legte ihr eine Halskette auf die Handfläche. Es war ein glitzernder Wasserfall von Saphiren, leuchtend grüner Emaille und 24-karätigem Gold. All das war kunstvoll verarbeitet worden: zu kleinen Pfauen, Lotusblüten und Spiralen. Es war eine wirbelnde Symphonie von Farbe, Außergewöhnlichkeit und Reichtum. Der Schmuck der Frau eines Moguls.
Sie hatte versucht, den Schmuck zurückzugeben, da er viel zu wertvoll war. Doch der Vater ihrer Freundin Radhika hatte sich damit bei ihr für die Erschießung des Tigers bedanken wollen, der seinen Sohn bedroht hatte. Grace wollte ihm erklären, dass sie seinen Sohn gar nicht gesehen hatte. Sie hatte nur den Tiger gesehen, der mit seinen leuchtend gelben Augen und dem weit aufgerissenen Maul fauchend auf sie zugesprungen war. Sie hatte instinktiv geschossen. Es war ein Glückstreffer gewesen. Ihre Belohnung hatte aus sechs Halsketten von Jaipurs führender Familie bestanden. Ein armseliger Dolch verblasste dagegen.
Sie wog den Dolch in der Hand. Eine Waffe von tödlicher Schönheit. Sie legte den Dolch zurück und schrieb eine Nachricht für Lady Kate und Olivia Wyndham. Und auf dem Weg hinaus nahm sie sich eine von Diccans Reitgerten, die auf dem Ohrensessel aus Leder neben dem Kamin lag. Sie stellte sich Diccan vor, der in ihrem Schlafzimmer im Sessel saß und langsam mit der Gerte gegen seinen Schenkel schlug, dann drehte sie sich um und verließ mit der Gerte und den Briefen, die sie noch immer in der Hand hielt, das Zimmer. Behutsam schloss sie die Tür hinter sich. Es war an der Zeit, nach Hause zu gehen.
Zum zweiten Mal in einer Woche ertappte Diccan sich dabei, wie er jemanden dümmlich anstarrte und sich sicher war, dass er sich verhört hatte. »Was soll das heißen, Mrs. Hilliard ist nicht hier? Ich habe Gäste mitgebracht.«
Gäste, die er lieber woanders gelassen hätte – am liebsten in irgendeinem Graben. Die Thorntons, die sich im Haus umsahen, als würden sie die Kosten für die Möbel zusammenrechnen, Geoffrey Smythe, der sich an die Wand lehnte, als hätte er nicht mehr die Kraft, allein zu stehen, und Minette, die in der Kutsche wartete. Minette hatte darauf bestanden, draußen zu bleiben, während er seine Frau über seine Reise zur Galopprennbahn in Newbury informierte, wo er sich Pferderennen ansehen wollte.
Die gesamte letzte Woche hatte Diccan mit Minette verbracht, um herauszufinden, wo sie den Vers versteckt haben mochte. Und um herauszufinden, was genau dieser Vers eigentlich war. Vergeblich. Geblieben waren ihm nur nicht enden wollende, fürchterliche Kopfschmerzen, eine Abneigung gegen französisches Parfum und eine Überdosis Thorntons.
Nur einen Erfolg hatte er zu verbuchen: Er hatte herausgefunden, dass die Löwen Princess Charlotte auf den Thron ihres Großvaters bringen wollten, weil sie der Überzeugung waren, sie würde dann ihren Wünschen und Forderungen nachgeben. Angesichts der Tatsache, dass die Prinzessin erst neunzehn Jahre alt war und den Großteil ihres Lebens in völliger Abgeschiedenheit verbracht hatte, konnte Diccan die Möglichkeit, dass dieser Plan gelingen könnte, nicht abtun. Laut Smythe hatten sie es bereits geschafft, die Verlobung zu unterbinden, die Prinny arrangiert hatte: Princess Charlotte hätte Prince William von Oranien heiraten sollen. Jetzt hatten sie einen anderen Kandidaten in der Hinterhand, der ihrer Meinung nach sehr viel genehmer war.
Alles wertvolle Informationen. Doch trotzdem nichts, das ihm verraten hätte, was es mit dem verdammten Vers auf sich hatte. Oder wie die Löwen planten, Princess Charlotte auf den Thron zu bringen – abgesehen von dem Attentat auf Wellington.
Im Augenblick jedoch musste er sich um sein persönliches Desaster kümmern. »Wo ist Mrs. Hilliard?«, wollte er wissen.
Roberts sah abschätzend an seiner gewaltigen Nase vorbei auf Diccans Gesellschaft, als wäre er nicht im Laufe von nur einem Tag vom Geschützführer zum Butler erhoben worden. »Madame hat mir ihr Ziel
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