Lustvolles Erwachen
leise genug, dass nur sie beide es hörten.
Harpers Miene versteinerte, aber er trat zur Seite. Diccan ging in die elisabethanische Halle. Die vertäfelten Wände waren mit Schnitzereien verziert, sodass sie wie gefalteter Stoff wirkten, und der Marmorfußboden im Schachbrettmuster glänzte in dem Licht, das durch die Fenster fiel. »Wo ist sie?«
Harper deutete mit einem Kopfnicken zum hinteren Teil. »In der großen Galerie. Wenn Sie ihr wehtun …«
Diccan hob sein Monokel und starrte ihn so lange an, bis er schwieg. Dann lief er zu einem Rundbogengang, aus dem Frauenstimmen an sein Ohr drangen. Er musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass seine Freunde ihm folgten. Er konnte sie wie einen Pesthauch hinter sich spüren, als er an einer blank polierten Eichentreppe und an Wänden, die mit glänzenden Waffen dekoriert waren, vorbeiging. Mittlerweile erkannte er die einzelnen Frauenstimmen: Grace und eine Irin – Mrs. Harper, wie er vermutete. Und noch eine andere Frau mit einem exotischen, trällernden Akzent.
Nachdem er durch einen kurzen Flur gegangen war, trat er in eine hohe, helle Galerie, die sich im hinteren Teil des Hauses erstreckte. Seine Schritte hallten auf dem knarrenden Holzfußboden wider. Über ihm befand sich eine mit Fresken verzierte, gewölbte Decke. An der Südseite reihte sich ein Fenster in der weiß vertäfelten Wand an das nächste, an der Nordseite hingen Bilder und standen Sessel. Es war ein bezaubernder, einladender Raum, der seltsamerweise genau zu seiner Frau passte, die ihn immer wieder überraschte.
Sie stand mit zwei Frauen in der Mitte des Zimmers.
»Seid gegrüßt«, rief er und blieb in der Tür stehen.
Beim Klang seiner Stimme zuckte Grace zusammen und blickte von der Kiste auf, die sie sich gerade angesehen hatte. Sie trug wieder ihre typischen grauen Kleider und eine große Schürze und hatte gelacht, bevor er gesprochen hatte. Das Leuchten in ihren Augen erstarb in dem Moment, als ihr klar wurde, wer da gekommen war.
»Diccan«, sagte sie und trat vor die Kiste, als wollte sie sie vor ihm beschützen.
Eine Frau, die beinahe so breit war wie Grace groß, stellte sich mit vor der Brust verschränkten Armen neben sie.
»Das ist also dein Mann«, sagte Mrs. Harper beinahe vorwurfsvoll.
»Nein, nicht meiner«, sagte Grace leise.
Diese Worte taten mehr weh, als er gedacht hätte. Neben Grace stand noch eine andere Frau, die zart, dunkel und ausnehmend hübsch war. Sie hatte ein fließendes türkisfarbenes Seidengewand an, einen Salwar Kamiz, den indische Frauen oft trugen. Sie schien Diccans Blick nicht erwidern zu können, sondern richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Kiste, die sie gerade untersucht hatte.
Genau genommen war der Raum voll von Kisten. Er wirkte fast wie der Packraum eines Importunternehmens.
»Ich habe nicht damit gerechnet, dich hier zu sehen, Diccan«, sagte Grace.
»Nein?«, erwiderte er. »Womit hast du denn gerechnet?«
Sie zuckte mit den Schultern. Das Licht funkelte seltsam in ihrem Haar. »Ich habe damit gerechnet, dass du wie immer dein Leben genießt. Ich dachte, es wäre ein guter Zeitpunkt, um mich in mein Zuhause zurückzuziehen und einige Dinge zu regeln.«
»Du meinst: Du wolltest weglaufen.«
Eine andere Frau wäre zusammengezuckt. »Ich hätte eher das Wort ›ausbrechen‹ gewählt, doch ich denke, wir verstehen uns. Ich musste mich nur wieder mit etwas vertraut machen, das alles mir gehört.«
Er hörte nicht, wie seine Begleiter eintraten. Und das war auch gar nicht nötig. Er sah es in dem Moment, als die Miene seiner Frau sich änderte. Wenn es möglich war, schien sie zu wachsen – nicht nur ihr Körper, sondern auch ihre Würde. Und er war dabei, sich in ihren Augen nur noch weiter herabzusetzen. Er war dabei, seinen schlechten Ruf durch Menschen, die er verachtete, zu festigen.
»Dir?«, fragte er leise und ignorierte die Tatsache, dass sie nicht länger allein waren. Er blickte sich im Raum um. »Was genau ist ›deines‹?«
Grace hielt ihren Blick auf ihn gerichtet. »Longbridge«, entgegnete sie ruhig. »Meine Tante hat es mir hinterlassen.«
Er nickte und bemühte sich, Haltung zu bewahren. Nun würde er eine unaussprechliche Schreckenstat begehen und diese ernste Frau verletzen. Und es gab nichts, was ihn davon abhalten konnte.
Er drehte das Monokel in seiner Hand. »Und du hast mich geheiratet. Offenbar ist es dir nicht klar, meine Liebe. Aber andererseits ist es vermutlich nicht förderlich für das
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