Lustvolles Erwachen
über den Hügeln. Ein Unwetter zog auf. Ein frischer Wind kündigte es an, wirbelte die ersten heruntergefallenen Blätter hoch und kühlte ihre erhitzten Wangen. Harps hätte ein Blick in den Himmel genügt, und er hätte vor Wellington-Wetter gewarnt – diese fürchterlichen Stürme, die Wellingtons Aktionen immer zu begleiten schienen. Aber das stürmische Wetter passte zu Grace’ Stimmung.
»Der Regen wird noch warten«, hatte George gesagt, als er ihr aufs Pferd geholfen hatte. »Es wird erst heute Nachmittag regnen.«
Sie mochte George. Er war ruhig, redete nicht viel und war aufmerksam. Er hatte das Lächeln eines Kindes. Und was noch besser war: Er bestand nie darauf zu wissen, was sie dachte.
Grace ritt gerade wieder zurück auf dem Weg zum River Arun, der das Grundstück im Osten begrenzte, als ihr Pferd scheute. Vermutlich hatte die ängstliche Stute sich vor den fallenden Blättern erschreckt. Aber dann sah sie, was das Pferd gespürt hatte. Ein anderes Pferd stand versteckt unter einigen Erlen.
Sofort schloss George mit seinem Pferd zu ihr auf. Der Reiter saß regungslos in den Schatten.
»Mr. Carver«, sagte sie und wurde langsamer, »was machen Sie denn hier?«
Er schien nicht beunruhigt zu sein, dass sie ihn gesehen hatte. »Beobachten.«
Sie warf George einen schnellen Blick zu und bemerkte, dass er die Stirn gerunzelt hatte. Sie wusste, wie er sich fühlte. Irgendwie kam es ihr falsch vor, Mr. Carver hier zu treffen.
»Sie befinden sich auf Privatgrund, Sir«, sagte sie. »Ich muss Lord Gracechurch Bescheid geben.«
»Wenn Sie das tun, muss ich Sie verhaften, weil Sie eine Ermittlung der Krone behindert haben«, entgegnete Mr. Carver und klang noch immer freundlich.
»Warum? Weil ich nicht zulasse, dass Sie das Landrecht verletzen?«
»Weil ich Ihren Ehemann beschatten muss, ohne gestört zu werden.«
Sie wandte sich um. »Diccan ist hier?«
»Seit einer halben Stunde. Hat er Ihnen nicht gesagt, dass er kommt?«
Sie sah Mr. Carver an, straffte die Schultern und war fast einen Kopf größer als er. »Seltsamerweise, Mr. Carver, glaube ich nicht, dass es zu meinem Ehegelöbnis gehört, dass ich mit Beamten über vertrauliche Unterhaltungen mit meinem Ehemann sprechen muss. Falls sich daran allerdings etwas ändern sollte, werde ich Sie selbstverständlich umgehend informieren.« Mit der Reitgerte tippte sie sich an den Tschako und ritt davon.
Diccan war tatsächlich angekommen. Als sie das Haus betrat, wusste sie es. Es lag nicht nur an der hektischen Betriebsamkeit, die zeigte, dass noch mehr Gäste gekommen waren. Sie konnte ihn fühlen. Es war wie ein Blitz, der durch ihr Innerstes zuckte. Sie hätte schwören können, dass sie ihn auch hätte riechen können, wenn sie geschnüffelt hätte.
Zuerst sah sie Biddle, der mit einem Stapel Oberhemden in der Hand durch den Flur lief.
»Biddle«, begrüßte sie ihn lächelnd, »wie schön, Sie zu sehen. Wie ist es Ihnen ergangen?«
Biddle warf ihr einen gequälten Blick zu. »Gut, Madame«, sagte er und klang schwermütig. »Natürlich war viel zu tun.« Er legte den Kopf ein bisschen schräg. »Ich habe allerdings ein paar Probleme mit den Krawatten des Herrn. Sie neigen in letzter Zeit dazu, unter meinem Bügeleisen zu versengen.«
Grace war sich nicht sicher, ob sie lächeln oder die Stirn runzeln wollte. Er lehnte sich auf die einzige Art und Weise, wie ein Diener es konnte, gegen Diccans Verhalten auf. Wenn ihr nicht wieder so übel gewesen wäre, dann wäre sie geblieben und hätte sich mit ihm zusammen weitere kleine Racheaktionen überlegt. Aber für ihren Geschmack hatte sie sich heute schon mit genug seelischen Erschütterungen auseinandersetzen müssen, also legte sie dem Diener nur kurz die Hand auf den Arm.
»Biddle«, sagte sie und hatte es satt, bemitleidet zu werden, »es würde mich zutiefst erschüttern, wenn ich erfahren würde, dass Ihr Ruf als bester Diener der britischen Inseln leiden würde. Und noch mehr würde es mich erschüttern, wenn ich glauben müsste, der Grund dafür zu sein.«
Einen Moment lang befürchtete sie, der steife kleine Mann würde in Tränen ausbrechen. Nach allem, was sie im Laufe ihres Lebens ertragen hatte, hatte sie Angst, dass das nun das Fass zum Überlaufen bringen würde. »Bitte, Biddle.«
Seine Verbeugung wäre auch einem König gegenüber nicht tiefer ausgefallen. »Sie sind sehr nett, Madame.«
»Ja, Biddle«, seufzte sie und ließ die Reitgerte durch ihre Finger gleiten.
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