Lustvolles Erwachen
wunderbaren Mann. Er hat in Edinburgh studiert. Sobald du von ihm untersucht worden bist, wirst du dich besser fühlen.«
»Ich bin so überwältigt«, gab Grace zu, richtete sich auf und drückte sich das feuchte Handtuch an die Stirn. »Wie hast du dich gefühlt?«
Olivia ließ sich neben ihr auf dem Boden nieder. »O Himmel. Aufgeregt, erstaunt, verängstigt und überzeugt davon, dass das noch keiner anderen Frau passiert ist.«
Grace nickte. Olivia hatte ihre Empfindungen in Worte gefasst. »Ich kann mir nicht vorstellen, das allein durchzustehen, so wie du es geschafft hast, Olivia. Du bist die stärkste Frau, die ich kenne.«
»Unsinn. Du hast dein Leben beim Militär verbracht und weißt, dass ich nicht die Einzige bin, die eine nicht ganz optimale Zeit hatte.«
Olivias Tortur eine »nicht ganz optimale Zeit« zu nennen, das war der Gipfel der Untertreibung. Olivia war im vierten Monat, als sie von zu Hause vertrieben worden und gezwungen gewesen war, durch Nebenstraßen zu wandern, um sich Arbeit zu suchen, damit sie ihren Lebensunterhalt bestreiten konnte. Und das alles, obwohl sie eine Countess gewesen war. Es gab Momente, in denen Grace sich noch immer fragte, wie Olivia Jack hatte vergeben können, dass er daran beteiligt gewesen war.
»Hast du es Diccan schon gesagt?«, fragte Olivia.
»Noch nicht. Ich wollte erst sicher sein und … na ja, ich wollte mit dir sprechen. Außerdem müssen wir erst wissen, was mit den Löwen los ist.«
Unvermittelt erhob Olivia sich und reichte ihr die Hand. »Was das angeht, weiß ich kaum mehr als du. Nur, dass Männer auf dem Anwesen patrouillieren und dass Jack mich nicht allein unser Grundstück verlassen lässt. Aber darüber können wir später reden. Im Augenblick geht es um dich.« Sie half Grace auf die Beine und schob sie dann ins Schlafzimmer. »Gleich morgen früh rufen wir Dr. Spence hierher. Danach musst du es Diccan erzählen.«
Grace seufzte. »Falls Diccan überhaupt kommt. Er war sich noch nicht sicher.«
Olivia setzte sie in einen Sessel am Fenster und breitete eine Decke auf Grace’ Knien aus. »Das ist noch ein Thema, das wir besprechen müssen. Ich will auch wissen, wie es dazu kommen konnte, dass du Diccan Hilliard geheiratet hast. Ich vermute, das ist eine tolle Geschichte.«
»Ja.« Grace seufzte. »Das stimmt.«
Da sie sich unsicher auf den Beinen fühlte wie ein frisch geborenes Fohlen, ließ sie sich von Olivia verhätscheln. Zum ersten Mal ging es ihr zu elend, um zu widersprechen. Sie vergaß ihre Einwände, als Olivia eine Kanne Tee und etwas Gebäck bringen ließ und sich dann im Sessel gegenüber niederließ, um gemütlich ein wenig mit Grace zu plaudern. Sie unterhielten sich fast eine Stunde lang über das, was wirklich wichtig war: Wie glücklich Grace sein konnte – egal, wie sehr ihr Magen sie quälte.
Grace hatte gehofft, dass ihre Unterhaltung mit Olivia helfen würde, ihre verworrenen Gefühle zu ordnen. Stattdessen machte es alles noch schlimmer, vergrößerte ihre Hoffnung und auch ihre Ängste. Zu viele Möglichkeiten, die sie zu überwältigen drohten. Sie wusste nicht, wie sie all die Emotionen in sich in Schach halten sollte.
Ein Baby.
Allein das Wort ließ ihr den Atem stocken.
Am nächsten Morgen hatte sie das Gefühl, explodieren zu müssen, wenn sie nicht etwas von ihrer Anspannung abbaute. Ihr ging es noch schlechter als am Tag zuvor, doch sie glaubte, dass es möglicherweise an der Aussicht lag, den Arzt und Diccan zu treffen. Sie war unruhig, ihr war schlecht, und sie war so müde, dass sie sich eine Woche lang hinlegen wollte. Ihre Finger waren wieder verkrampft. Sie hätte schwören können, dass ihre Haut einen leicht grünlichen Ton angenommen hatte.
Sie hasste dieses Gefühl und begegnete ihm wie immer damit, dass sie sich in emsige Geschäftigkeit stürzte. Hätte sie doch nur daran gedacht, Epona nach Sussex bringen zu lassen. Ein guter Ausritt hätte ihren Seelenzustand vielleicht so verbessert, dass sie sich dem, was noch kommen würde, leichter stellen konnte. Und selbst wenn sie … na ja, sie hatte noch nie gehört, dass einer gesunden Frau ein leichter Galopp geschadet hätte. Also humpelte sie zum Stall und holte George ab. Kurz darauf machte sie sich auf den Weg über Pfade, die die Stallburschen ihr gewiesen hatten. Und lief Mr. Carver direkt in die Arme …
Sie hatte ihren Ausritt genossen. Die Morgenluft war ungewöhnlich warm für die Jahreszeit, und dicke Quellwolken türmten sich
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