Luther. Die Drohung
scharren. Sie reißt sich einen Zehennagel ein. Aber Dad
nennt sie Äffchen, weil sie gut klettern kann.
Sie ist in der Mitte der Toilettenwand, als ein Mann in die Küche
geht.
Mia erstarrt an der Wand wie ein Gecko.
Das Einzige, was sich bewegt, ist ihr Herz. Es fühlt sich
verräterisch an, ein krankes, feuchtes bumm! bumm! in ihrer
schmalen Brust.
Sie beobachtet den Mann, der ein seltsam sanftes und sorgenvolles
Gesicht hat, wie ein Kindersoldat. Dann macht er einen Schrank auf und schaut
hinein. Er fegt das ganze Zeug darin auf den Boden.
Mia weiß, dass der Mann nach ihr sucht. Es ist schwer, nicht
hinzusehen, so wie es manchmal schwer ist, bei Gruselfilmen nicht hinzusehen,
weil das Wegsehen manchmal noch schlimmer ist.
Der Mann späht durchs Fenster. Sie sieht, wie seine Augen den Garten
absuchen.
Sein Blick gleitet über sie.
Ihr wird bewusst, dass in der Küche das Licht brennt und dass die
Küche deshalb so hell aussieht wie ein Aquarium. Vermutlich starrt der Mann auf
sein eigenes Spiegelbild.
Aber das ist schwer vorstellbar. Deswegen hält sie es für eine
Falle, als der Mann sich umdreht und aus der Küche stürmt. Sie bewegt sich
nicht, drückt sich an die Wand, hat zu viel Angst, um sich zu rühren.
Er ist lange weg.
Mia fängt an, weiterzuklettern.
Sie zerkratzt sich die Finger und Zehen, und einmal rutscht ihr Bein
ab, sie schürft sich das Schienbein bis zum Knie auf. Aber sie schafft es. Sie
stemmt sich hoch und kämpft und zieht sich aufs Dach des alten Klohäuschens
hinauf.
Dann kommt der junge Mann zurück in die Küche. Er macht die Tür auf
und tritt in den Garten.
Mia erstarrt auf dem Dach des Klohäuschens. Sie hockt dort wie eine
Katze. Sie ist höher als der Kopf des Mannes. Wenn er nicht hochschaut, wird er
sie vielleicht nicht entdecken.
Er sucht den Garten ab, erforscht die Ecken mit dem Strahl einer
Taschenlampe. Als er sich in ihre Richtung wendet, sieht sie, dass sein Gesicht
sich verändert hat: Es ist verzerrt, als hätte er geweint. Die eine Hälfte
seines Gesichts ist ganz voll mit schwarzem Zeug, ungefähr in der Form einer
menschlichen Hand. Aber Mia weiß, dass es in Wirklichkeit kein schwarzes Zeug
ist, es ist rotes Zeug.
Sie schnappt nach Luft – und der Mann schaut nach oben.
Er und Mia starren sich an, völlig regungslos.
Dann kriecht Mia über den letzten Meter der Wand zwischen ihr und
dem Nachbargarten. Sie lässt sich auf die andere Seite der Mauer fallen.
Ihr Knöchel knickt um und tut weh. Sie müsste schreien, aber sie
denkt nicht mal daran. Sie rennt einfach weiter, beachtet den verletzten
Knöchel kaum.
Sie schaut erst zurück, als sie den großen Garten durchquert hat und
in die Rosenbüsche gelaufen ist, wo Dornen sie stechen.
Da ist er, kriecht über die Gartenmauer. Er springt hinunter, viel
besser als sie eben. Er sieht nicht so aus, als hätte er sich den Knöchel auch
nur ein
bisschen verletzt.
Er nimmt eine geduckte Haltung ein und sprintet auf sie zu.
Mia versucht zu klettern, aber da ist nichts, woran sie sich
festhalten kann; der Efeu, den die Robertsons gezüchtet hatten, bevor sie
wegzogen, ist zu verschlungen und lose, er rutscht ihr einfach durch die Hände.
Sie riskiert noch einen Blick, nur noch einen einzigen Blick über die Schulter.
Da steht er, der traurig aussehende junge Mann mit dem roten
Handabdruck im Gesicht. Er sieht sie einfach an.
Sie weiß nicht, wie lange er schon so dasteht.
Es macht ihr Angst zu sehen, dass der junge Mann auch Angst hat,
denn das bedeutet, dass in ihrem Haus etwas noch Schlimmeres ist – und
was immer das ist, es ist da drinnen bei ihren Eltern. Mia will weinen. Ihr
schlottern die Knie.
Der Mann atmet komisch. Er schaut weg, zu dem leeren Haus, in dem
die Robertsons gewohnt haben und das nun zum Verkauf steht.
Er sagt: »Komm schon.«
»Nein«, antwortet Mia, wenn auch mit schwacher Stimme.
Der Mann sagt: »Hör zu. Wir haben keine Zeit. Überhaupt keine. Mein
Dad ist im Haus, und er hat mich rausgeschickt, um dich zu holen.«
Mia fängt an zu weinen. »Was will er?«, fragt sie.
»Dass du sein kleines Mädchen wirst.«
»Ich will nicht sein kleines Mädchen sein.«
»Dann komm mit mir mit.«
»Wer bist du?«
»Patrick.« Er streckt die Hand aus. »Da lang.«
Als Mia die Hand nicht nimmt, marschiert er einfach zur Küchentür
des leeren Hauses und probiert, ob sie aufgeht. Sie ist natürlich
abgeschlossen. Also zieht er seinen Kapuzenpulli aus und wickelt ihn um
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