Luther. Die Drohung
das
verängstigt in seinem runden, blauen Gefängnis kauert.
»Lass es einfach noch ein bisschen da drin«, sagt der Mann. »Und
dann kipp den Eimer um. Lass es herumschnüffeln und sich an den Ort gewöhnen.
Danach könnt ihr beste Freunde werden. Würde dir das gefallen?«
Sie nickt, weil sie zu viel Angst hat, um es nicht zu tun.
»Lächle mal«, sagt der Mann. »Ich hab dir eben ein Geschenk
mitgebracht.«
Sie lächelt.
»Das ist gut«, sagt der Mann. »Wie willst du ihn nennen?«
»Weiß nicht.«
»Er muss einen Namen bekommen«, sagt der Mann.
Mia fallen keine Namen ein. Ihr fallen überhaupt keine Wörter ein.
Aber sie will dem Mann gehorchen. Sie blickt verzweifelt zum Bücherregal.
»Peter«, sagt sie.
»Wunderbar«, antwortet der Mann. Dann fährt er fort: »Gut, du und
Peter, ihr habt eine lange Nacht hinter euch. Wie wär’s, wenn ihr jetzt ein
Nickerchen macht?«
»Okay.«
»Wenn du Pipi oder Aa musst«, sagt er, »mach in den Eimer, okay?«
»Okay.«
»Ich besorg dir morgen eine richtige Toilette. So eine wie in einem
Wohnwagen. Das wär doch was.«
»Ja«, antwortet sie.
»Gut«, sagt der Mann. »Dann gute Nacht.«
»Gute Nacht.«
Der Mann bleibt zögernd in der Tür stehen, er scheint noch über
etwas nachzugrübeln. Dann fragt er: »Magst du Babys?«
»Ja«, antwortet Mia.
»Willst du ganz viele Babys haben, wenn du groß bist?«
»Ja«, sagt Mia.
»Gut«, antwortet der Mann.
Er schließt die Tür und verriegelt sie und geht hinauf und schließt
und verriegelt auch jene Tür.
Und hier drin stinkt es nach schimmeligen Decken und muffiger Luft
und den alten Büchern, die den Geruch von Alter und Verfall in sich tragen. Mia
weiß, dass sie die Bücher nie aufschlagen wird, nicht einmal wenn ihr
sterbenslangweilig ist, denn sie weiß, dass schon viele Kinder vor ihr in
diesen Büchern geblättert haben. Es könnten Zeichnungen von einer anderen
Kinderhand drin sein, und das könnte sie nicht ertragen.
Mia sitzt auf dem Bett und schaut hinunter auf das Kaninchen. Seine
Schnauze zuckt, beschnüffelt äußerst wachsam seine Umgebung.
Sanft kippt Mia den Eimer um. Dann zieht sie sich zentimeterweise
aufs Bett zurück, lehnt den Rücken an die kalte Wand und versucht, sich weder
zu bewegen noch zu atmen, und konzentriert sich ganz auf das Kaninchen.
Nach langer, langer Zeit bewegt der Eimer sich leicht auf dem kalten
Boden. Sie kann die Schnauze des Kaninchens sehen, wie sie am Rand des Eimers
herumschnuppert.
Dann streckt das Kaninchen den Kopf heraus und schaut sich um. Seine
Augen sind wässrig braun.
Das Kaninchen schießt so schnell aus dem Eimer, dass Mia
hochschreckt und einen kurzen Schrei ausstößt.
Das Kaninchen schießt in die Ecke unter dem Bett. Dort bleibt es
starr vor Schreck sitzen.
Mia weiß, dass sie es nicht stören darf. Sie weiß, dass sie ihm Zeit
lassen muss. Sie beginnt langsam die Kruste an ihrem Knie abzukratzen. Sie
singt ein Lied. Es ist ein fröhliches Lied, das sie an fröhliche Zeiten
erinnert. Aber an fröhliche Zeiten zu denken, ist wie in den Bauch geboxt zu
werden. Sie weiß nicht, was sie tun soll.
Mia verstummt. Sie rollt sich auf dem Bett zu einer Kugel zusammen.
Sie steckt den Daumen in den Mund.
Während sie daran nuckelt, schläft sie ein.
22
Zoe stützt sich im Bett auf, fühlt sich gerädert und wie
betäubt. Sie war die ganze Nacht wach und hat versucht, nicht daran zu denken.
Sie gibt auf, greift nach ihrem Laptop. Öffnet eine
Nachrichten-Website.
Mutmaßlicher
Kidnapper von Mia Dalton, hört sie in einem Video. Mord an Familie
Dalton. Zweiter Einbruchsmord innerhalb von zwei Tagen. Kein Kommentar zu
vermuteter Verbindung zum Mörder von Sarah und Tom Lambert und zur Entführung
des Babys Emma Lambert. London unter Schock. DCI John Luther.
Und da ist John. Winzig auf dem Laptopbildschirm. Wie er im
Nieselregen von einem Tatort davonstürmt, seinen Mantel zuknöpft, ein großer
Mann mit großen Schritten.
Zoes Handy lädt an der Wand. Sie greift danach und ruft John an.
»DCI Luther«, meldet er sich.
»John«, sagt sie. »Ich bin’s.«
Eine Pause folgt. Er beendet sie mit den Worten: »Nicht jetzt.« Er
legt auf.
John hat sich schon oft seltsam verhalten: zerstreut, ausweichend,
deprimiert, wild. Aber er war noch nie abweisend.
Er sagt immer, wie merkwürdig er es findet, dass Leute zu Fremden
höflicher sind als zu den Menschen, die sie lieben. Er gibt sich Mühe, Zoe
zuvorkommend zu behandeln, ist stolz darauf, und
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