Lux Domini - Thomas, A: Lux Domini
Verlauf
der Anhörung.
Das Tribunal, das die junge Nonne bisher befragt hatte, wurde zu ihrer
Verblüffung aufgelöst und durch ein neues ersetzt. Somit saß Kardinal
Ciban, der bisher an keiner der Sitzungen teilgenommen hatte, plötzlich
selbst vor ihr. Catherine erwartete, er würde ihr nun auf seine kühle,
distanzierte Art erklären, dass sie seine Meinung nicht im Namen der
Kirche verkünden könne und dass sie ganz offensichtlich nicht den
vollen Rahmen seiner Position überblicke, doch nichts dergleichen
geschah. Stattdessen stellte Ciban ihr die neue Jury vor, legte ihr
aktuelles Buch Der entzauberte Gott auf den Tisch und schlug eine mit einem Pagemarker gekennzeichnete Stelle im Buch auf. Dabei blickte er
sie mit einer solch unmenschlichen Ruhe an, dass sie sich unwillkürlich
fragte, ob er unter Drogen stand.
»Sie unterscheiden in Ihrem Buch zwischen innerseelischen Erfahrungen
und objektiven Tatsachen, Schwester Catherine. Bitte erläutern Sie der
Kommission den Unterschied.«
Die »Kommission«, wie Ciban die Jury nannte, bestand nur noch aus
vier Vertretern der Glaubenskongregation und saß erhöht auf einem
Podest hinter dem Richtertisch, während Catherine alleine an ihrem
Tisch saß. Sie versuchte in den Gesichtern der ausgewechselten Männer
zu lesen. Der einzige Fixpunkt, der ihr geblieben war, war Pater Michael Sorti vom Lux Domini, ein kleiner, mausgesichtiger Mann, der sie jedes
Mal ansah, als erwarte er eine geradezu revolutionäre Offenbarung –
oder auch Entweihung – von ihr.
»Wir Menschen begehen gerne den Fehler, eine innerseelische
Wahrnehmung auf die Außenwelt zu projizieren«, erklärte sie. »Nehmen
wir als Beispiel die Marienerscheinungen. Ein religiöses Erlebnis erfährt seine Ausformung in der materiellen Welt als eine Art
Geistererscheinung, die mahnt und die Zukunft prophezeit.«
Pater Sorti räusperte sich und rückte sich in seinem Stuhl zurecht. »Sie sprechen von einem Fehler, Schwester Catherine. Aber ist das
Christentum nicht eine Offenbarungsreligion, in der Gott sich offenbart, um dem Menschen seinen Willen mitzuteilen? Die Marienerscheinungen
von Fatima haben Tausende bezeugt. Eine Lichterscheinung, die
majestätisch durch den Raum schwebte. Ganz zu schweigen vom
Sonnenwunder. Wie können Sie hier von einer Erfahrung sprechen, die
lediglich auf Stoffwechselvorgänge im Gehirn zurückzuführen ist? Das
ist doch wohl kaum mit dem biblischen Gottesbild vereinbar.«
Catherine wusste nur zu gut, dass der kanonische Prozess, der das im
Jahr 1917 dokumentierte Ereignis für glaubwürdig erklärt hatte, 1930
abgeschlossen worden war. Fatima war – ebenso wie Lourdes – zu einem
katholischen Wallfahrtsort geworden, zu dem Millionen von Menschen
jedes Jahr pilgerten. Damit stärkten Fatima und Lourdes die katholische
Position.
»Warum nicht, Pater? Gott ist kein Stoff, aus dem heillose
Versprechungen gemacht werden sollten, scheinbar verwirklichte
Träume in der realen Menschenwelt. Der Apostel Paulus sagte einmal:
›Gottes Geist gibt Zeugnis unserem Geist, dass wir Gottes Kinder sind.‹
Das bedeutet für mich nichts anderes, als dass Gott sich im tiefsten
Inneren des Menschen offenbart. Und das ist sehr wohl mit der Wahrheit Gottes und der Wahrheit des Menschen vereinbar.«
Die junge Nonne konnte förmlich sehen, wie Sorti innerlich mitging.
Indem sie erklärte, dass Gott sich jedem Menschen tief in seinem Inneren selbst zu offenbaren vermochte, sprach sie praktisch wie eine
Protestantin, auch wenn sie Katholikin war. Doch es war nicht Sorti, der als Nächstes das Wort ergriff.
»Dann sehen Sie in den Wundern von Fatima oder Lourdes also kein
Wirken Gottes in der realen Welt?« Die Frage kam von Ciban, beiläufig,
während er in ein paar Papieren blätterte, fast als täte sie nichts zur
Sache.
Catherine erkannte allerdings sehr wohl die unheilvolle Frage dahinter:
»Ist Ihr Glaubensbekenntnis eine Lüge, Schwester?«
»Ich glaube an die Macht des Heiligen Geistes. Ich glaube, dass wir
glauben müssen, dass wir geradezu prädestiniert sind, spirituell zu sein.
So steht es geschrieben in der Heiligen Schrift, und so steht es
geschrieben in unserem genetischen Code. Wir sind Abbilder Gottes.
Wir sind Gottes Kinder. Als Mann und als Frau.«
Ciban nahm das Buch, erhob sich und trat vom Podium auf Catherines
Tisch zu. Nur die junge Frau konnte in diesem Moment in seine
stahlgrauen Augen sehen. Die unnatürliche
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