Lux Domini - Thomas, A: Lux Domini
und hätte darüber sogar fast den Flug vergessen. Darius
hatte schon immer ein Faible für Bibelzitate und Aphorismen gehabt.
Faszinierende Textstellen hatte er da markiert.
10.
Rom, Vatikan
Es gab nicht mehr allzu viel, was Schwester Catherine Bell nach den
letzten Tagen in Rom, nach etlichen Sitzungen im Palast der römischen
Inquisition, noch hätte überraschen können. Die herzliche E-Mail einer
der Mitarbeiterinnen des Internetbüros, einer Franziskanerin mit Namen
Thea, verbunden mit der Bitte um ein persönliches Treffen, hatte sie
dann aber doch ehrlich überrascht und berührt:
Sehr geehrte Schwester Catherine,Ihre Publikationen stoßen nicht bei jedermann in Rom auf Unverständnis oder Feindseligkeit. Eine
Neuerung in der Kirche braucht einfach Menschen wie Sie. Ich selbst
besitze leider weder Ihren Mut noch Ihre Schlagfertigkeit, dennoch
möchte ich Ihnen auf Ihrem steinigen Weg meine Freundschaft und
meine Unterstützung anbieten. Es würde mich freuen, wenn ich die
Gelegenheit bekäme, Sie vor Ihrer Abreise kennenzulernen und kurz mit Ihnen zu sprechen.Ganz gleich, wie das Urteil auch ausfallen wird, Ihre Anhörung vor der Heiligen Kongregation für die Glaubenslehre wird
das Denken in vielen Köpfen verändern. Sie tun der Kirche damit einen Gefallen, auch wenn sie das momentan noch nicht wahrhaben will.Wenn
es Ihnen recht ist, würde ich Sie bitten, mich nächsten Donnerstag zu besuchen und den Abend bei mir zu verbringen. Ich würde mich sehr
darüber freuen.Ihre Schwester in Jesu ChristoThea
Catherine hatte
die E-Mail sogleich beantwortet und mit der Bitte versehen, bei der
Gelegenheit das vatikanische Internetbüro besichtigen zu dürfen. Nun
befand sie sich auf dem Weg dorthin, durch das hektische,
jahrtausendealte Rom, in dem nichts nach Plan verlief und dennoch alles
wie durch Zauberhand gerade noch so funktionierte.
Sie hatte sich für einen dunklen, bequemen Hosenanzug und eine blaue
Bluse entschieden. Ohne dass es ihr bewusst war, verlieh ihr das Outfit
in Verbindung mit ihrem blonden, zu einem Pferdeschwanz gebundenen
Haar, den markanten Wangenknochen und den hellen Augen etwas
Sportliches und Tatkräftiges. Auf der Mitte der Engelsbrücke legte sie
eine kurze Pause ein, blickte in die braunen Fluten des Tibers und
erinnerte sich daran, dass sie erst wenige Tage zuvor schon einmal in das Innere des Vatikans vorgedrungen war.
Sie war hinter Mauern und Pforten vorgedrungen, zu denen
gewöhnlichen Besuchern der Zugang durch die Gardesoldaten in ihren
historischen Gewändern oder die Vatikanpolizisten verwehrt blieb.
Durch das St. Anna-Tor war sie zunächst zur vatikanischen Apotheke
gelangt, hatte sich dort eine Sportsalbe gekauft und etwas später an
einem Geldautomaten mit lateinischer Bedienungsanleitung – sie musste
jedes Mal darüber schmunzeln –, Geld für einen Einkauf im nahen
Supermarkt abgehoben.
Und dann hatte sie Benjamin Hawlett wiedergesehen. Ben!
Er und Pater Darius waren für sie immer wie eine Familie gewesen, seit
sie als Kind im Institut gelebt und ihre Mutter sich mehr und mehr von
ihr und ihrer unerklärlichen Gabe zurückgezogen hatte. Manchmal hatte
Catherine geglaubt, dass ihre Mutter ihre Gabe regelrecht gehasst hatte, ebenso gehasst wie Catherines Vater, über den sie nie auch nur ein
einziges Wort verloren hatte. Seit sie denken konnte, war ihr Vater für
sie das große Geheimnis, das große Tabu. Doch dann waren Pater Darius
und Ben in ihr Leben getreten, wie ein Vater und ein Bruder. Und nun
hatte Ben wieder vor ihr gestanden.
Die Traurigkeit war auch nach all den Jahren nicht aus seinen dunklen
Augen gewichen. Natürlich war er älter geworden, genau wie sie, doch
hatte das letzte Jahrzehnt ihn reifer und noch interessanter gemacht. Die kleinen Fältchen um die Augen und den Mund verrieten, dass er trotz
seiner melancholischen Ader seinen Humor nicht verloren hatte. Dann
konnte sie in einem Moment emotionalen Überschwangs, in dem sie
kurz die Kontrolle über ihre Gabe verlor, für ein paar Sekunden seine
Aura sehen. Sie war noch immer von jenem herrlichen Weiß und Blau,
das sie aus seiner Jugend kannte. Hier und da sprühten ein paar
orangerote Funken, was darauf hindeutete, wie aufgeregt er hinter der
Maske der Ruhe war. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte ihn vor
lauter Wiedersehensfreude inmitten des züchtigen Kirchenstaates zur
Begrüßung umarmt und fest auf die Wange
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