Lux Domini - Thomas, A: Lux Domini
holen.« Damit verschwand er
Richtung Sakristei.
Schwester Bernadette seufzte, dann sagte sie zu Ben: »Wissen Sie, was
mir einfach nicht in den Kopf will, Monsignore?«
Er war sich nicht sicher, schüttelte stumm den Kopf.
»Das Mordmotiv. Schwester Silvia hatte nie im Leben Feinde. Der
Mörder muss ein Wahnsinniger sein.«
51.
Catherine blickte mit rotgeränderten Augen durch den imposanten,
marmorverkleideten Innenraum des Petersdoms. Sie suchte Ablenkung,
vor allem aber brauchte sie Ruhe vor den intensiver werdenden
Träumen, die sie immer häufiger überkamen. Sie war einem
verschlungenen Pfad aus dem Apostolischen Palast gefolgt, der direkt in
die Kirche führte. Die Arbeiter einer Putzkolonne waren gerade damit
beschäftigt, den Dom nach dem täglichen Touristenandrang zu reinigen.
Catherine genoss die Aktivität der Arbeiter und die gleichzeitige Stille des immensen Raumes.
Sie machte einen vollen Rundgang durch den Dom. Unter Michelangelos
mächtiger Kuppel hielt sie inne und las das dort in zwei Meter hohen
Buchstaben stehende Zitat aus dem Matthäus-Evangelium: »Tu es Petrus
et super hanc petram aedificabo ecclesiam meam et tibi dabo claves
regni caelorum – Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine
Kirche bauen, und Dir gebe ich die Schlüssel zum Himmelreich.« Die
wahre Bedeutung dieser Worte sowie der Kreuzigung des Gesalbten
schien sich ihr durch die Visionen immer mehr zu erschließen.
Die Kreuzigung … Allein der Gedanke daran erfüllte sie mit Entsetzen.
Während ihres Studiums hatte sie einmal gelesen, dass der Nagel durch
die Handgelenke den Nervus medianus treffe, den größten Nerv, der
durch die Hand verlief, und diesen zerstörte. Der dabei erlittene Schmerz musste geradezu unbeschreiblich sein. Die Römer hatten dafür sogar
eigens ein neues Wort erfunden: excruciare, was wörtlich »aus dem
Kreuz heraus« bedeutete.
Hollywood hatte den letzten Atemzug des Gesalbten schon in etlichen
Monumentalverfilmungen gezeigt: Jesu Kopf, der auf die Brust glitt,
gefolgt von einem gewaltigen Blitz, der die Dunkelheit zerriss, und
einem ohrenbetäubenden Donnerschlag. Diese Vision mochte Catherine
noch bevorstehen, denn ihre letzte hatte sie nach Galiläa auf den Berg
geführt, wo der auferstandene Jesus zu den Jüngern gesprochen hatte.
Die junge Frau hatte Benelli und Darius erkannt, und sie war sich
inzwischen sicher, dass auch Sylvester und Isabella zugegen gewesen
waren. War da nicht auch eine weibliche Gestalt in einem blau-weißen
Sari gewesen?
»Friede sei mit euch!«, hatte die Stimme des Gesalbten auf dem Berg
gesagt. »Unsere Mission ist noch nicht vorbei. Meine Reise auf Erden
geht hier zu Ende, aber eure Reise hat gerade erst begonnen. Vergesst
nicht, euch ist alle Gewalt im Himmel und auf Erden gegeben, darum
gehet hin und sorgt für Frieden zwischen den Völkern. Lehrt sie alles,
was das himmlische Licht uns gelehrt hat, und vergesst nicht, ihr seid bei den Menschen alle Tage, bis ans Ende der Welt, ebenso wie die Schatten
…«
»Kein Schatten ohne Licht, kein Licht ohne Schatten. Die
Verführungskraft der Apokalypse«, hörte Catherine plötzlich Benellis
Stimme neben sich. »Sie haben in Ihrer letzten Veröffentlichung selbst
daran erinnert, Schwester.«
Die Szenerie wechselte, und Catherine wurde übergangslos Zeugin des
verzweifelten Selbstmordes von Judas Ischariot, dessen Leichnam,
ebenso wie den Leichnam des Gesalbten, Josef von Arimathäa barg. Sie
sah die sorgsam ineinandergerollten Schriftrollen, die man unter dem
Gewand des Judas entdeckt hatte.
Die Schriftrollen … Was bedeuteten sie?
Benelli gab ihr ein Zeichen, ihm zu folgen, und sie traten an den Rand
des Blutackers. Inmitten der Landschaft passierten sie eine Tür, die in
einen Raum mit Bergen von Akten und Dokumenten führte, in dem ein
großer Stahlschrank stand.
»Wir befinden uns im ›Turm der Winde‹«, erklärte der alte Kardinal,
holte einen Schlüssel aus seinem Gewand hervor und öffnete den
schweren Schrank. Wie Catherine wusste, war dieser ›Turm der Winde‹
ein Teil des vatikanischen Geheimarchivs. Nur wenige Eingeweihte
durften ihn überhaupt betreten, darunter ganz sicher Kardinal Ciban –
und ganz sicher nicht sie. Papst Gregor XIII. hatte den Turm im
sechzehnten Jahrhundert als Observatorium erbauen lassen. Hier lag der
Ursprung der gregorianischen Kalender-Reform.
»Hier ist es!« Benelli holte ein kleines rotes Buch
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