Lux Domini - Thomas, A: Lux Domini
über die Bibelseiten. Zwei Zeilen stachen
ihm dabei besonders ins Auge:
Apostelgeschichte 4,20: »Denn wir können unmöglich schweigen von
dem, was wir gesehen und gehört haben.«
Apostelgeschichte 8,37: »Wenn du von ganzem Herzen glaubst, kann es
geschehen.«
Es konnte keinen Zweifel mehr geben. Die unterstrichenen Textzeilen
waren mehr als nur eine kontemplative Laune ihrer Verursacher. Sie
deuteten auf eine Gemeinsamkeit hin.
Ben klappte die Bibel zu und steckte sie ein. Kardinal Ciban würde sich
gewiss weiterhin stur stellen und nichts von seinem Hintergrundwissen
offenbaren, aber womöglich erkannte Catherine in den Markierungen
einen tieferen Sinn.
53.
Der Meister lehnte sich bequem in seinem Sessel auf der Veranda zurück
und ließ seinen Blick über das abendliche Rom schweifen. Seine Hände,
in schneeweiße, hauchdünne Handschuhe gehüllt, ruhten auf Papst Leos
Tagebuch.
Er hatte keine weiteren Namen der päpstlichen Kongregation in Leos
privaten Aufzeichnungen finden können, womit er auch nicht wirklich
gerechnet hatte, dafür aber hatte sich ein anderer Verdacht bestätigt:
Dieser naive Idealist von einem Papst, dieser Tagträumer vor dem Herrn,
plante doch tatsächlich ein drittes vatikanisches Konzil.
Mit Unbehagen dachte der Meister an die verheerenden Folgen, die das
zweite Vatikanische Konzil auf die Kirche gehabt hatte. Obwohl die
Kurienkardinäle, vor allem Päpste wie Paul und Innozenz, das
Schlimmste verhindert hatten, wirkte die nachkonziliare Krise bis in den heutigen Tag hinein, und der Schaden, den diese Nachwehen anrichteten,
war überhaupt noch nicht abzusehen. Ordensleute wie Catherine Bell
waren nur ein Produkt dieser Krise. Leos Naivität war unglaublich.
Dieses Konzil musste noch im Ansatz verhindert werden! Es wurde Zeit,
dass er, der Meister, die Führung hinter den Kulissen übernahm.
Er blickte über die steinerne Umrandung der Veranda auf die scheinbar
so nahe Kuppel des Petersdoms, und seine Miene verdunkelte sich. Noch
immer hatte er nicht herausgefunden, worauf Leos so wundersam
wiedergewonnene Stärke zurückzuführen war. Doch von der Lösung
dieses Rätsels hing der Erfolg seines gesamten Planes ab. Und die Zeit
drängte!
Kurz überkamen ihn Zweifel an der Wahl der Ermordeten, aber er
konnte Innozenz in diesem Punkt absolut vertrauen. Zwei Jahrzehnte
hatten der verstorbene Pontifex und er gemeinsam die Kirche regiert und
waren ein nahezu unüberwindbares Bollwerk gegen die Modernisten in
den eigenen Reihen gewesen. Innozenz hatte im Meister seinen
Nachfolger gesehen. Alles für die Machtübergabe war bereits arrangiert
worden, daher hatte Innozenz ihm – auch dank seiner
Überredungskunst – noch einige der Namen der geheimen Kongregation
auf dem Sterbebett genannt. Sechs Namen. Den siebten hatte Innozenz
leider nicht mehr über die Lippen bringen können. Doch für das
Vorhaben des Meisters waren die sechs Namen, die er hatte, erst einmal
mehr als genug gewesen, und das Eliminieren der Genannten hatte zu
Beginn durchaus Wirkung gezeigt. Die Antwort auf Leos so
überraschende Genesung musste also woanders liegen. Nur wo?
Wurden die ermordeten päpstlichen Berater, diese Spiritualen, wie sein
Freund Innozenz sie immer genannt hatte, etwa doch ersetzt? Soweit der
Meister wusste, war das bisher nur wenige Male in zweitausend Jahren
Papsttum geschehen. Erst ein weiteres Konklave, erst der erneuerte Bund
mit einem neuen Papst setzte normalerweise die notwendigen Kräfte für
eine Wiedererstarkung der päpstlichen Kongregation frei. Der Meister
hatte keine konkrete Vorstellung, wie das genau vonstattenging, er
wusste nur, dass es geschah. Es schien ebenso ein Wunder wie die
Auferstehung Jesu Christi zu sein.
Das vornehme Räuspern des Hausdieners holte ihn aus seinen düsteren
Gedanken zurück. »Monsignore deRossi wünscht Sie zu sprechen,
Eminenz.«
Der Meister nickte und bat den Hausdiener, den Pater zur Veranda zu
geleiten, während er Leos Tagebuch und die hauchdünnen Handschuhe
in einem Fach seitlich an seinem bequemen Sessel verschwinden ließ.
Als deRossi eintrat, bestellte der Meister bei dem Diener ein leichtes
Essen und einen guten Wein. Sein fähigster Schüler sollte nicht mit
leerem Magen Bericht erstatten. Überdies ließ sich bei einem guten
Essen sehr viel klarer denken, reden und planen.
»Guten Abend, Eminenz«, grüßte deRossi.
Der Meister deutete auf den gegenüberstehenden
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