Lux Domini - Thomas, A: Lux Domini
mit goldenen Lettern aus dem Schrank und zeigte es ihr. Catherine wurde sich beiläufig der
Tatsache bewusst, dass es außerhalb des Gemäuers Nacht war und es im
›Turm der Winde‹ kein elektrisches Licht gab, sie aber dennoch so gut
sehen konnte wie am Tag! Der Kardinal hielt ihr das Buch hin, doch die
Vision begann sich in diesem Moment bereits aufzulösen. Benelli, die
Akten, die Dokumente und der Stahlschrank verschwammen wie hinter
einer sich bewegenden Wasserwand. Bevor der Traum sich vollends
auflöste, konnte sie gerade noch den Titel des Buches erkennen: Das
Buch der Taten .
Catherine wandte den Blick vom Innern der Peterskuppel ab und kehrte
über den verschlungenen Gang zum Apostolischen Palast zurück. Als sie
ihr Zimmer betrat, ließ sie die letzte Traumsequenz noch immer nicht
los. Das Buch der Taten. So wurde auch eines der Bücher, nämlich die Apostelgeschichte, aus dem neuen Testament genannt. Nur was hatte
Benelli ihr damit sagen wollen?
52.
Ben blickte sich in Schwester Silvias kleiner Zelle um. Natürlich war ihr Leichnam nicht wiederaufgetaucht, und niemand hatte auch nur den
Hauch einer Idee, wohin er verschwunden sein könnte. Nicht einmal
Schwester Bernadette oder die Mutter Oberin. Hätte der Körper der
Toten Ben womöglich irgendetwas offenbart, das ihn zu dem Mörder
hätte führen können?
Ben seufzte. Er hatte von den Leichenhändlern in Kalkutta gehört, die all die menschlichen und tierischen Leichname, die in der ganzen Stadt am
Straßenrand lagen, aufsammelten und zu Gott weiß was
weiterverarbeiteten. Eine rege Industrie, die die Aasgeier, Ratten und
hungrigen Hunde zum Teil ersetzte und damit so manche Epidemie in
Schach hielt. Sollte Schwester Silvia in die Hände eines solchen
Händlers geraten sein, war gewiss nichts mehr von ihr übrig, außer ihrem Totenhemd. Wahrscheinlicher war allerdings, dass die Ermordete längst
irgendwo verbrannt worden war.
Ben öffnete den Schrank, der nichts weiter als Schwester Silvias
spärliche Kleidersammlung enthielt. Zwei fein säuberlich
zusammengelegte Saris, ein weiteres Paar Sandalen, das Übliche. Es
stimmte, was Schwester Bernadette gesagt hatte. Die Missionarin hatte
nicht den geringsten Wert auf irdische Besitztümer gelegt. Sie hatte mit allem Weltlichen abgeschlossen. Wie es aussah, selbst mit ihrer Familie.
Ben hatte bis jetzt nicht ein einziges Foto von Silvias Eltern,
Geschwistern oder ihren Freunden gefunden. Tatsächlich war ihre Habe
noch spärlicher als die von Darius. Die Ordensfrau hatte einzig für die
Mission gelebt, für die Armen.
Er machte den Schrank wieder zu, warf einen Routineblick unter das
Bett und hob die einfache Matratze an. Nichts. Schließlich öffnete er die kleine Schublade des schmalen Tisches, der zusammen mit einem alten
Stuhl am Fenster stand.
Für einen Augenblick stand er da wie paralysiert, als hätte er ein
durchgreifendes Déjà-vu. Doch es war nicht die schwarze, in
geschmeidiges Leder gebundene Bibel von Darius, die er da in der
Schublade entdeckt hatte, sondern deren Gegenstück.
Er nahm den Band aus der Schublade und spürte, wie seine Hand dabei
leicht zitterte. Dann setzte er sich auf den Stuhl und schlug das alte Buch auf. Zweifelsohne war es oft benutzt worden. Die Seiten des Neuen
Testaments waren ziemlich abgegriffen, vor allem die der
Apostelgeschichte. Aus einem Impuls heraus blätterte Ben die
betreffenden Seiten vorsichtig durch und traute seinen Augen nicht.
Mehrere Zeilen waren wie mit einem Lineal unterstrichen. Er fing an, die markierten Passagen zu lesen, und wie es schien, waren es exakt die
gleichen Zitate, die Darius hervorgehoben hatte.
Silvia und Darius? Hatten die beiden sich etwa gekannt und über diese
Bibelzitate ausgetauscht? Und wenn dem so war … hatten Pater
Sylvester und Schwester Isabella womöglich ebenfalls diese
Bibelausgabe besessen?
Dann fiel es Ben wie Schuppen von den Augen: LUKAS! Der Evangelist
Lukas! Die Apostelgeschichte des Lukas, die die Taten der Apostel
beschrieb! Nur was hatte die Apostelgeschichte des Lukas mit den
Morden, dem Lux Domini und dieser geheimen Datei LUKAS zu tun?
Ben holte tief Luft, in dem Versuch, die Fassung nicht zu verlieren. Er
hatte das Gefühl, der Lösung greifbar nahe zu sein, obwohl er wusste,
dass dieser Eindruck trog. Er hatte bestenfalls eine neue Spur. Nicht
mehr. Und die Verfolgung dieser Spur konnte lebensgefährlich sein.
Sein Blick glitt noch einmal
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