Lux perpetua
Klosterdorf Wolmessen war so gut wie nichts übrig geblieben, den Eindruck von Leere und Verlassenheit verstärkte der
Schnee, der in einer dicken Schicht über der Brandstätte lag, der Schnee, aus dessen strahlend weißer Reinheit schwarze, verkohlte
Balken, Pfosten und verrußte Kamine ragten. Nicht viel mehr war auch von dem am Dorfrand gelegenen Gasthaus »Zum silbernen
Glöckchen« übrig geblieben. Dort, wo es sich einst befunden hatte, schaute ein wüster Haufen aus verkohlten Balken, Sparren
und Dachfirsten hervor, der sich auf Mauerreste und Schutt aus geschwärzten Ziegeln stützte.
Reynevan ritt um die Ruine herum und betrachtete die Brandstätte, die immer noch freundliche Erinnerungen an die Zeit vor
einem Jahr, an den Winter 1427 / 1428, in ihm weckte. Das Pferd stapfte vorsichtig durch den mit verbranntem Holz durchsetzten Schnee, stieg, die Hufe hoch
anhebend, vorsichtig über die Balken hinweg.
Über einem Mauerrest stieg ein dünnes Fähnchen aus grauem Rauch empor, es stand fast senkrecht in der frostigen Luft.
Als das Pferd schnaubte und der Schnee knirschte, hob der an einem kleinen Feuerchen kniende bärtige Landstreicher den Kopf
und schob seine bis zu den Brauen reichende Fellmütze ein wenig nach hinten. Dann wandte er sich wieder seiner vorherigen
Tätigkeit zu, nämlich in die von der Hälfte eines Pelzrockes geschützte Glut zu blasen. Gleich daneben, an der Mauer, stand
ein verrußter Topf, neben ihm lagen ein Dudelsack, ein Sack und eine mit Riemen umschlungene Kiste.
»Gelobt sei
. . .
«, grüßte Reynevan. »Bist du von hier? Aus Wolmessen?«
Der Landstreicher blickte verstohlen auf, dann machte er sich wieder ans Blasen.
»Die Leute von hier, wohin sind sie gezogen? Weißt du das vielleicht? Der Wirt Martin Prahl und seine Frau? Weißt du etwas?
Hast du nicht etwas davon gehört?«
Der Landstreicher wusste, wie sich zeigte, entweder nichts oder er hatte nichts gehört, oder Reynevan und seine Fragen waren
ihm völlig egal. Oder er war taub. Reynevan wühlte in seiner Tasche, wobei er überlegte, wie viel von seiner ohnehin geringen
Barschaft er entbehren könnte. Aus dem Augenwinkel nahm er eine Bewegung wahr. Neben dem breiten Stumpf eines mit Eiszapfen
behangenen Baumes saß ein Kind. Ein Mädchen, höchstens zehn Jahre alt, schwarz und dürr wie eine kleine ärmliche Krähe. Auch
die auf ihn gerichteten Augen waren Krähenaugen, schwarz und ausdruckslos, unbeweglich. Der Landstreicher blies in die Glut
und brummte etwas, dann stand er auf, streckte die Hand aus und murmelte etwas. Krachend schoss Feuer aus dem Reisighaufen
hervor. Die kleine Krähe brachte ihre Freude darüber zum Ausdruck. Mit einem seltsam pfeifenden, nicht menschlichen Ton.
»Jon Malevolt«, sagte Reynevan, der zu begreifen begann, wen er vor sich hatte, laut, langsam und deutlich. »Der Mamun Jon
Malevolt. Weißt du nicht, wo ich ihn finden kann? Ich habe eine wichtige Nachricht für ihn, es geht um Leben und Tod
. . .
Ich kenne ihn. Er ist mein Freund.«
Der Landstreicher stellte den Topf auf die Steine, die das Feuer umgaben. Er hob den Kopf. Er blickte Reynevan an, als hätte
er dessen Anwesenheit jetzt erst wahrgenommen. Er hatte stechende Augen. Wolfsaugen.
»Irgendwo hier in diesen Wäldern haben zwei
. . .
zwei Frauen ihre Behausung, die
. . .
die Arkana kennen. Ich bin ein Bekannter dieser Frauen, aber ich kenne den Weg nicht. Würdest du ihn mir weisen?«
Der Landstreicher blickte ihn an. Mit Wolfsaugen.
»Nein«, sagte er schließlich.
»Was heißt nein? Weißt du ihn nicht? Kennst du ihn nicht? Oder willst du nicht?«
»Nein heißt nein«, sagte die kleine Krähe. Von oben, vom Mauerrand. Reynevan hatte keine Ahnung, wie sie dorthin gelangt war,
welches Wunder bewirkt hatte, dass sie dort hinaufgekommenwar, zudem unbemerkt, gerade eben noch hatte sie neben dem Baum gesessen.
»Nein heißt nein«, wiederholte sie pfeifend und barg das Köpfchen zwischen ihren mageren Schultern. Die zerzausten Haare fielen
ihr auf die Wangen.
»Nein heißt nein«, bekräftigte der Landstreicher und schob wieder seine Kappe zurecht.
»Warum?«
»Darum.« Der Landstreicher deutete mit einer ausholenden Handbewegung auf die Brandstätte. »Weil ihr frevlerisch wütet. Weil
Feuer und Tod vor euch herziehen und hinter euch Brandstätten und Tote zurückbleiben. Und da wagt ihr es, noch Fragen zu stellen?
Erkundigungen einzuholen? Nach dem Weg zu fragen?
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