Lux perpetua
Klinge bis zum Heft in
den Hals. Zuckend kippte der Erstochene gegen die Tür und öffnete sie im Fallen. Rixa, die etwas gehört hatte, schaute in
den Schuppen hinein.
»Reynevan!«, schrie sie erschrocken. »Hierher! Schnell!«
»O Christus!« Tybald, der auch hineingesehen hatte, taumelte nach hinten. »O Christus
. . .
«
Scharley und Samson eilten herbei. Reynevan kam ihnen zuvor. Er stürzte hinein, stieß den Goliarden beiseite und hätte Rixa
fast umgeworfen.
Drinnen auf dem Stroh lag
. . .
»Jutta!«
Er eilte zu ihr hin, fiel auf die Knie. Er fasste sie an den Schultern. Was er zuerst spürte, war feuchte Hitze. Sie war so
fieberheiß, dass sie fast brannte. Ihre Augen waren geschlossen, sie bebte und zitterte vor Schüttelfrost.
»Jutta! Ich bin’s! Ich bin da! Jutta!«
»Reynevan
. . .
« Sie öffnete die Augen. »Reynevan?«
Er umfing sie. Und spürte die schreckliche Eiseskälte ihrer Hände. Er sah sie an und erstarrte. Die Haut an ihren Händen war
bläulich, an den Fingern wurde sie allmählich tiefblau, und die Finger selbst trugen tiefe Schatten von Purpur.
Mit zitternden Fingern öffnete er ihr Hemd. Und obwohl er sich große Mühe gab, konnte er sein verzweifeltes Aufstöhnen nicht
unterdrücken.
Juttas bläuliche Schultern, ihre Brust und ihr Bauch waren mit Schwären und Beulen übersät. Vor ihren Augen schienen sich
neue zu bilden. Manche platzten auf und Blut sickerte heraus. Sie zitterte, zuckte in Krämpfen, er deckte sie zu und wickelte
sie in seinen Mantel. Sie blickte ihn an, der Ohnmacht nahe.
»Reynevan
. . .
Kalt
. . .
«
Er deckte sie mit einem weiteren Mantel zu, den Samson ihm reichte. Jutta ergriff fest seine Hand. Sie wollte etwas sagen,
aber ein Blutstrom erstickte sie fast. Er hielt ihren Kopf zur Seite geneigt, damit sie alles ausspucken konnte.
»Was ist mit ihr?«, fragte Scharley dumpf. »Was hat sie für eine Krankheit? Warum ist sie so schrecklich blau?«
Reynevan biss die Zähne zusammen und deutete auf den Hals des Mädchens, auf die Verletzung, die parallel verlaufenden Striemen,
die bereits geschwollen und vereitert waren.
»Man hat sie verletzt und dabei angesteckt«, presste er hervor. »Man hat ihr etwas eingeimpft
. . .
«
»Was?«
»Das ist
. . .
« Die Stimme blieb ihm im Halse stecke. »Ich denke, dass
. . .
Dass man sie mit einer durch Magie hervorgerufene Blutfäulnis angesteckt hat. Blutfäulnis lässt das Blut verderben und verfaulen
. . .
sagt Avicenna
. . .
die Salerner nennen es
sepsis . . .
Die Blaufärbung der Haut kommt von inneren Blutungen. Ihr Blut tritt aus den Adern und bildet Pfropfen
. . .
Das breitet sich im ganzen Körper aus
. . .
Eiterherde entstehen
. . .
Sie trägt schon Anzeichen von Wundbrand
. . .
«
»Arznei?«
»Gegen Blutfäulnis gibt es kein Heilmittel
. . .
Niemand kennt ein Mittel dagegen
. . .
«
»Rede nicht so, zum Teufel noch mal. Du bist Arzt. Versuche es!«
Zuerst das Fieber, dachte er, während er bei ihr kniete, ich muss zuerst das Fieber senken
. . .
Dann braucht sie unbedingt ein starkes Gegengift
. . .
Etwas, das die Vergiftung aufhält
. . .
Mit zitternden Fingern öffnete er die Klammern seiner Tasche, kramte den Inhalt heraus und begann fieberhaft darin zu wühlen.
Mit einem übergroßen Gefühl von Hilflosigkeit.
Mit der zunehmenden Gewissheit, dass nichts von dem, was er bei sich hatte, geeignet wäre, Jutta zu heilen oder wenigstens
zu helfen, ihr Leiden zu lindern. Seine
remedia contra malum,
die
diacodia
und
electuaria,
die
sotira, antidota
und
panaceae
, sie alle waren zu nichts nütze. Weder das
artemisium,
das
hypericum
und
serpillum
noch Pestwurz, Teufelsschreck, noch all die anderen Spezifika, die in seiner Tasche steckten.
Die Amulette, dachte er, Telesmas Amulette. Es sind nicht mehr viele davon übrig
. . .
Die Blutstürze eindämmende
gemma rutila.
Das
venim
aus Lapislazuli, das so wirksam bei Bissen von giftigen Tieren war
. . .
Der
aquila,
der Adlerstein, der das Blut reinigt
. . .
Aber alle müssen sofort angewandt werden, und sie ist schon vor Stunden verletzt worden
. . .
Magische Blutfäulnis breitet sich sehr rasch aus
. . .
Aber vielleicht ja doch eines der Amulette
. . .
Gott, gib, dass eines hilft
. . .
Die Amulette halfen nicht. Sie waren zu schwach. Sie hatten keine Chance gegen das, womit Jutta angesteckt worden war.
Beschwörungen. Er kannte einige. Über sie gebeugt, rezitierte er eine nach der anderen, die zunehmende Trockenheit in
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