Lux perpetua
Und die Vorabendsonne erstrahlte über ihnen. Es wurde hell.
Und es geschah, dass Reinmar von Bielau, der Medicus, seine Schatulle mit den Amuletten, das Geschenk Jost Duns, genannt Telesma,
des Magiers von Prag, öffnete. Es geschah, dass Reinmar jener Schatulle ein Amulett entnahm, das er dort ganz tief unten verwahrt
hatte, als einziges, ein kleines, unscheinbares Amulett, das nie, niemals zum Einsatz kommen sollte, weil man es nur in einer
extremen und endgültigen Situation anwenden durfte, in einer ausweglosen und hoffnungslosen Lage. Es geschah, dass Reinmar
Jutta umfing, ihr das Amulett an die Schläfe legte und den Spruch sprach, und dieser lautete:
»Spes proxima.«
Es geschah, dass Jutta erleichtert aufseufzte, dann lächelte und sich entspannte.
Und es geschah, dass Jutta nicht mehr war.
Es blieb nur ihr Name zurück, ein Wort, das auszusprechen sinnlos geworden war.
Neunzehntes Kapitel
in dem sich erfüllt, was sich erfüllen soll. Und in dem sich einem die Worte des beseelten Propheten Jesaja, des Sohnes des
Amoz, auf die Lippen drängen: »Wir harren auf Licht, siehe, so ist’s finster , auf Helligkeit, siehe , so wandeln wir im Dunkeln.«
Am ersten Tag wurden alle vier Winde aus ihren Verankerungen gelöst. Die Erde wurde von ihrer Stätte entfernt. Die Pforten
des Himmels öffneten sich, und der Rauch eines großen Feuers verhüllte den Horizont. Die Sonne wurde finster wie ein grober
Sack, und der Mond wurde zu Blut. Und von überallher kamen Verzweiflung und Erschrecken. Und es herrschte Trauer. Und es gab
Tränen. Und eine furchtbare, alles ausfüllende Einsamkeit.
Am zweiten Tag herrschte große Finsternis. Die Sterne fielen vom Himmel herab. Die Erde tat ihren Schlund auf an allen vier
Ecken der Welt. Und der Schlund verströmte sich unter Stöhnen. Erde und Meer erzitterten und mit ihnen Berge und Hügel. Und
die Statuen der echten und falschen Götter stürzten ein, und nach ihrem Fall verachteten alle Menschen das Leben auf dieser
Welt.
Das Himmelsgewölbe ward von Osten nach Westen aufgerissen. Und plötzlich ward es Licht,
lux perpetua.
Und die Stimme des Erzengels drang daraus hervor und ward gehört in den tiefsten Tiefen.
Dies irae, dies illa . . .
Mors stupebit et natura,
cum resurget creatura,
iudicanti responsura.
Liber scriptus proferetur,
in quo totum continetur,
unde mundus iudicetur.
Am dritten Tag
. . .
Am dritten Tag kam Samson. Und mit ihm Scharley, Rixa und Tybald.
»Genug, Reynevan. Es ist genug, mein Freund. Du hast sie beweint. Du hast sie würdig und gebührend beweint. Jetzt steh auf
und reiß dich zusammen.«
Über dem Land der Bayern erhob sich Rauch, der Wind trieb von überallher den Geruch von Verbranntem. Die Kriegshandlungen
waren aber zum größten Teil schon eingestellt worden, es ging das Gerücht, man habe mit Verhandlungen begonnen. Auf der eroberten
und zum hussitischen Hauptquartier umfunktionierten Burg Böheimstein bei Nürnberg wurde angeblich Kurfürst Friedrich von Brandenburg
höchstpersönlich erwartet, um mit den Hauptleuten zu verhandeln. Es war gut möglich, dass dort der Kriegzug beendet werden
konnte, sollten sich die Deutschen freikaufen. Um ihnen dabei, einen Entschluss zu fassen, ein wenig zu helfen, hatte Prokop
den hussitischen Abteilungen befohlen, in Richtung Oberpfalz, nach Sulzbach und Amberg, zu ziehen, womit er dem Pfalzgrafen
Johann von Pfalz-Neumarkt einen nicht geringen Schrecken einjagte.
Alle Gerüchte erwiesen sich als wahr. Die Verhandlungen waren von Erfolg gekrönt. Der Kurfürst zahlte Lösegeld, der Pfalzgraf
zahlte, Nürnberg zahlte. Der Kriegszug war zu Ende. Der bei Pegnitz und Auerbach lagernden hussitischen Armee wurde befohlen,
in zwei Kolonnen den Weg nach Hause anzutreten. Man hatte jedoch keineswegs die Absicht, unterwegs untätig zu sein. Die weiter
südlich dahinziehende Kolonne formierte sich zum Heer, um Burg Königswart, die dem verhassten Heinrich von Plauen gehörte,
anzugreifen. Die Nordkolonne führte Prokop in einem Eilmarsch nach Eger.
Die Armee zog am Samstag, dem elften Februar, am späten Nachmittag, fast schon in der Dämmerung, nach Eger und überfiel im
Vorbeimarschieren die Dörfer und Siedlungen, welche die Stadt umgaben. Die gesamte Vorstadt stand in Flammen, die Streifzüge
der Reiterei unter Jan Zmrzlík sorgten dafür, dass auch nicht ein einziger der umliegenden Weiler verschont blieb. Reynevan
hatte sich
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