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Lux perpetua

Titel: Lux perpetua Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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gelockert
     und ihr vom Haupt genommen wurde. Sie gab keinen Ton von sich und vergoss keine Träne, als sie ihrem Sohn die Krone herunterzogen.
     Ihr dunkles Antlitz zitterte nicht, als sie an den Blechrändern ihres Gewandes herumzerrten. Ihre traurigen Augen veränderten
     ihren Ausdruck nicht und der schmale Mund bewegte sich nicht, als sie Perlen und Edelsteine herauspulten.
    Berstendes Holz krachte, zerreißende Leinwand knirschte. Die geschändete Ikone zerbrach unter den Messern. In zwei Holzteile,
     einen größeren und einen kleineren.
    Reynevan stand reglos, mit hilflos herunterhängenden Armen da. Das Blut schoss ihm ins Gesicht, vor seinen Augen verschwamm
     alles
    Hodegetria
, tönte es in seinem Kopf. Die, die du uns den Weg weisest. Große Mutter. Panthea – die Allgöttin. Regina – die Königin. Genetrix
     – die Gebärerin. Creatrix – die Schöpferin. Victrix – die Siegerin.
    »Genug!« Ostrogski stand auf. »Den Kleinkram dranlassen, nichts wert. Wir können fort. Aber zuerst ich mache, was man mir
     hat gesagt.«
    Mutter Natur, Herrscherin der Elemente, Königin und Herrin der strahlenden Höhen. Die , deren Göttlichkeit die ganze Welt in vielerlei Gestalt, unter vielen Namen und mit vielen Riten verehrt.
    Fürst Fedor Ostrogski zog ein breites Hackmesser mit einfachem Holzgriff aus einer Scheide hervor. Er trat zu der geschändeten
     Ikone.
    Reynevan stellte sich ihm den Weg.
    »Mach etwas anderes kaputt«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Das hier nicht.«
    Ostrogski trat einen Schritt zurück und blinzelte.
    »Du machst dauernd Ärger, Deutscher!«, spottete er. »Nichts, nur immer Ärger. Dein Ärgermachen hab’ ich genug, ich kann diese
     Ärger nicht mehr ertragen. Aus dem Weg, sonst ich schlage zu!«
    »Geh von der Ikone weg!«
    Fedko brachte seine Absichten weder durch seine Stimme noch durch seine Miene zum Ausdruck. Er schlug plötzlich zu, schnell,
     wie eine Schlange. Reynevan wunderte sich selbst über die Schnelligkeit seiner Reaktion. Er packte den nach vorn gebeugten
     Fürsten an der Schulter und drückte seinen Kopf gegen den Wagen, dass es krachte. Er riss ihn zu sich heran, drehte ihn um
     und schlug ihm mit ganzer Kraft aufs Kinn, gleichzeitig wand er ihm den Dolch aus der Hand. Ostrogski heulte auf und fasste
     sich an den Kopf, unter seinen Fingern rann das Blut hervor.
    »Uuuuoooaaa!«, brüllte er, als er zu Boden ging. »Er hat mich getötet!
Baszom az anyát!
Schlagt ihn! Schlagt zu!«
    Als Erster sprang ihn Tłuczymost an, ihm folgten die Brüder Kondzioł. Reynevan schwang seinen Dolch und hielt sie damit in
     Schach. Nun kam Nadobny von der Seite, stach mit dem Schwert zu und verletzte ihn an der Hüfte. Mikosz Kondzioł sprang herbei
     und trieb ihm sein Messer durch den Bizeps. Reynevan ließ seinen Dolch fallen, griff nach Arm und Messer seines Gegners, die
     Klinge schnitt ihm in die Hand. Melchior Kondzioł warf sich gegen ihn und stieß mit seinem Stilett zu, demselben, mit dem
     er die Edelsteine aus der Ikone herausgebrochen hatte. Das Messer glitt nur über seine Rippen, aber Reynevan krümmte sich
     vor Schmerz. Tłuczymost sprang herzu und rammte ihm sein Messer am Haaransatz gegen die Stirn. Kuropatwa bohrte ihm, ohne
     auszuholen, das Schwert in die Schulter, im selben Augenblick schlug ihm Pełka mit dem Zugriemen auf den Oberarm, dann noch
     einmal ins Kreuz undauf den Hinterkopf. Reynevan wurde es schwarz vor Augen, eine seltsame Kraftlosigkeit erfasste seinen ganzen Körper. Er spürte,
     wie Klingen ihn stachen und schnitten, wie schwere Schläge und Tritte auf ihn herniederprasselten. Blut floss ihm in die Augen
     und rann aus der Nase in den Mund.
    »Genug!«, hörte er Skirmunt rufen. »Ihr Herren, es ist genug! Lasst ihn endlich zufrieden!«
    »Ja, schade um die Zeit«, sagte Kuropatwa. »Der krepiert hier sowieso. Weg hier. Verbinde mal einer Ostrogski den Schädel,
     dann in den Sattel und heidahopp!«
    »Heida!«
    . . .
Das Hufgetrommel wurde leiser und verstummte schließlich ganz. Reynevan erbrach sich. Dann rollte er sich wie ein Fötus ein.
    Es bewölkte sich. Leichter Nieselregen setzte ein.
     
    Der Schmerz.
    Descendet sicut pluvia in vellus.
Sie strömt wie Regen über das Gras, wie ein dichter Regen, der die Erde wässert. In ihren Tagen blühen Gerechtigkeit und großer
     Frieden auf, solange der Mond nicht untergeht. Und sie wird herrschen von Meer zu Meer, vom Fluss bis zum Rande der Welt.
    Und so wird es sein bis ans Ende

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