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Lux perpetua

Titel: Lux perpetua Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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eingenommene Burg auf dem Zobten, an die Verschwörung in Schweidnitz, an
     die Saboteure von Glatz – diejenigen, die darauf vertrauten, dass die Jagd auf Spione auch die echten, wirklichen aus ihren
     Schlupfwinkeln trieb, und diejenigen, die zwar nicht an Spione glaubten, denen aber Hysterie und Angst sehr gelegen kamen.
     Alle forderten sie zur Denunziation auf, vermehrten Angst und Konfusion und bewirkten nur, dass Panik mit Hass und Verfolgung
     zurückzukehren drohte. Verräter, Hexen und Hussiten konnten sich überall versteckt haben,hinter jeder Ecke, in jedem Winkel, in jeder Verkleidung. Ein jeder war verdächtig: die Nachbarin, weil sie sich ein Sieb
     geborgt hatte, der Kramer, weil er als Wechselgeld beschnittene Schott herausgab, der Tischler, weil er Unflätiges über den
     Propst erzählt hatte, der Propst, weil er trank, der Schuster, weil er nicht trank. Der Domschullehrer, Magister Schilder,
     hatte es gewiss verdient, dass man ihn anschwärzte, war er doch auf der Stadtmauer um die Bombarde herumgeschlichen. Zweifellos
     verdient, denunziert zu werden, hatte es der Ratsherr Scheuerlein, weil er während der sonntäglichen Messe ganz schrecklich
     gefurzt hatte. Verdächtig war auch der Stadtschreiber, der junge Herr Albrecht Strubitsch, denn obschon erkrankt, war er doch
     wieder gesund geworden. Verdächtig war Hans Plicht, der Stadtwächter, da reichte es schon, ihm zuzuhören, um zu wissen: ein
     Säufer, Hurenbock, Schmiergeldeinstreicher und eine käufliche Seele.
    Verdächtig war der Jongleur und
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, weil er akrobatische Spiele und Späße trieb, verdächtig war der Tischler Koschuber, weil er über jene Späße lachte. Verdächtig
     war die Jungfer Hedwig Bantsch, weil sie sich die Haare kräuselte und rote Schnabelschuhe trug. Herr Güntherode, weil er den
     Namen des Herrn unnütz im Munde führte. Verdacht erweckte der Gerber, weil er stank. Und der Bettler, weil er noch schlimmer
     stank. Und der Jude. Weil er Jude war. Und alles, was bös’ ist, kommt doch von den Juden.
    Verleumdungen und Denunziationen nahmen immer mehr zu, die Konjunktur trieb sich selbst an und wuchs dabei wie ein rollender
     Schneeball. Rasch kam es so weit, dass diejenigen am verdächtigsten waren, die niemand angeschwärzt hatten. Als sie das bemerkten,
     zeigten einige sich selbst an. Und ihre engsten Verwandten.
    Es wäre mehr als verwunderlich gewesen, hätte sich in dieser Flut von Anzeigen keine gegen Reynevan gefunden.
    Aber sie fand sich. Und nicht nur eine.
    Sie erwischten ihn auf dem Salzplatz, den er, sich zwischen die Buden hindurchschlängelnd, auf dem Weg zu seinem Frühstück
     überquerte. Er frühstückte jeden Tag im »Mohrenkopf«. Regelmäßig. Zu regelmäßig.
    Sie schnappten ihn, drehten ihm die Arme auf den Rücken und stießen ihn gegen einen Kramladen. Es waren ihrer sechs.
    »Reinmar von Bielau«, sagte ihr Anführer wie unbeteiligt und fuhr sich über seine flache, von einer Krankheit schlimm entstellte
     Nase. »Du bist verhaftet. Leiste keinen Widerstand.«
    Er leistete keinen. Weil er nicht konnte. Ihm schwirrte der Kopf, er war so überrascht, dass er glaubte, er träume, er hatte
     noch gar nicht begriffen, was eigentlich los war. Jutta, dachte er fieberhaft und völlig konfus. Der Dechant Felician soll
     herausfinden, wo sich Juttas Gefängnis befindet. Wie soll ich jetzt mit ihm in Kontakt treten? Wenn ich selbst gefangen bin?
     Oder tot?
    Um sie sammelte sich bereits eine Menschenmenge, die immer größer wurde.
    »Also«, der mit der entstellten Nase nickte, »bindet das Vögelchen. Legt ihm Fesseln an.«
    »Legt sie ihm an, legt sie ihm an!« Durch die Menschenmenge drängte sich ein grauhaariger Kerl in einem Lederwams und mit
     einem Schwert, begleitet von mehreren Bewaffneten. »Und sobald ihr sie ihm angelegt habt, tretet beiseite. Denn der gehört
     uns. Wir verfolgen ihn schon seit ein paar Tagen. Ihr seid uns zuvorgekommen, gut für euch. Aber jetzt übergebt ihn uns. Wir
     haben das größere Anrecht.«
    »Was denn für ein größeres?« Der mit der Nase stemmte die Arme in die Seiten. »Wieso größer? Dies hier ist nicht die Dominsel,
     dies hier ist Breslau! Und in Breslau gibt es nichts Höheres als den Rat der Stadt, in Breslau regiert der Rat. Ich habe den
     Gefangenen auf Befehl der Ratsherren verhaftet, und ich bringe ihn ins Rathaus. Ihr habt recht, ich war schneller. Und Ihr
     seid zu spät gekommen! Euer Schaden, Ihr hättet ebenfrüher aufstehen

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