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Lux perpetua

Titel: Lux perpetua Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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müssen. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst! Also macht Euch weg von hier, Herr von Hunt. Stört mich nicht bei
     meiner Dienstausübung!«
    »In Breslau herrscht der Bischof«, erwiderte Kutscher von Hunt. »Der Statthalter König Sigismunds, deines Herrn, du Spießbürger,
     und der des ganzen Rates. Und ich vertrete hier den Bischof, pass also auf, du Rathausknecht, mit wem du sprichst. Und wen
     du wegschickst. Ich habe den Befehl, den Arrestanten zum Bischof zu bringen
. . .
«
    »Und ich, ihn ins Rathaus zu bringen!«
    »Dies ist eine kirchliche Angelegenheit«, wiederholte Kutscher von Hunt wütend, »und die geht das Rathaus einen Dreck an.
     Also aus dem Weg mit dir!«
    »Selber aus dem Weg!«
    Kutscher von Hunt knurrte, schnaubte und legte die Hand auf den Schwertknauf. In diesem Moment sprang – oder besser gesagt
     schoss – eine kleine Gestalt in einem grauen Gewand aus der immer stärker herandrängenden und immer lauter rufenden Menschenmenge.
     Noch bevor irgendjemand reagieren konnte, hatte sich die Gestalt bereits aus vollem Lauf auf Reynevan gestürzt, ihn den Knechten
     entrissen und umgerissen, wobei sie ihn zu Boden drückte. Der überraschte Reynevan sah ihr mitten ins Gesicht. Ein graues,
     unscheinbares Durchschnittsgesicht. Aus der ordinären Nase und dem ordinären Mund rann Blut. Und scheußlicher, klebriger Schleim.
    »Ich rotze sie an«, brummte ihm die Gestalt mit weichem, weiblichem Alt ins Ohr, »und du, lauf weg
. . .
«
    Die Rathausknechte und die Leute Kutscher von Hunts rissen die Frau von Reynevan herunter und stießen sie wie eine Puppe hin
     und her. Die Frau erschlaffte plötzlich unter ihren Händen und verdrehte die Augen. Sie hustete zuckend, verschluckte sich
     und röchelte. Plötzlich räusperte sie sich, spuckte und rotzte. Nicht zu knapp, alle ringsherum beschmutzend. Blut und schleimiger
     Rotz besprenkelte Gesichter und Kleidung der Umstehenden.
    »Allerheiligste Maria!«, jammerte jemand in dem Menschenknäuel. »Das ist die Seuche! Die Pest! Die Pest!«
    Einer Wiederholung bedurfte es nicht. Alle wussten, was die
mors nigra
war, der Schwarze Tod, alle wussten, wie man sich vor ihm schützen musste. Das Prinzip war einfach, es gab nur eine Regel,
     die hieß:
fuge!
, lauf weg!
    Alle   – Händler, Passanten, Knechte, die Bewaffneten des Bischofs, der mit der Nase und Hunt – wandten sich panisch zur Flucht,
     schubsten und traten sich gegenseitig. Binnen einer Sekunde war der Salzplatz menschenleer.
    Zurück blieb nur Reynevan. Der Medicus. Er kniete neben der Pestkranken. Versuchte, ihren Mund zu öffnen, ihr Erleichterung
     zu verschaffen, Blut und Schleim, die den Hals verschlossen, zu entfernen. Dagegen hilft kein Zauberspruch, dachte er, fieberhaft
     und wirr überlegend. Kein Zauberspruch, kein Zauber und kein Amulett. Keine Magie kann das heilen, keine schützt vor Ansteckung
     mit der Beulenpest
. . .
Denn das ist die Beulenpest, zweifellos, die Symptome sind klassisch, obwohl
. . .
Sie hat kein Fieber
. . .
hat eine kalte Stirn
. . .
Und der Körper
. . .
die Brust
. . .
Wie ist denn das möglich? Irgendetwas stimmt hier nicht
. . .
    Die Frau mit dem Durchschnittsgesicht schob seine Hand weg.
    »Anstatt mich abzutasten«, sagte sie ruhig und deutlich, »lauf besser weg, du verliebter Schwachkopf. Schnell. Bevor sie merken,
     dass dies eine Illusion war.«
    Das ließ er sich nicht zweimal sagen.
     
    Wenn er sich dazu entschlossen hätte, so wie er war, sofort aus Breslau zu verschwinden, nur mit seinem dünnen Wams am Körper,
     wäre ihm dies gelungen. In der Stadt herrschten Tumult und Verwirrung, eine Flucht hätte gute Aussichten gehabt zu glücken.
     Aber Reynevan tat es leid um seine Habseligkeiten und um den schwarzen Trippler, den ihm Dzierżka de Wirsing geschenkt hatte.
     Es erwies sich, dass er nicht dazu imstandewar, unverzüglich und ohne es zu bedauern auf seine Besitztümer zu verzichten. Dieser Materialismus war sein Verderben. Wie
     er schon das von vielen vor ihm gewesen war.
    Sie erwischten ihn im Pferdestall. Sie gingen auf ihn los, als er gerade sein Pferd sattelte. An Widerstand war nicht zu denken.
     Es waren ihrer zu viele, der Effekt wäre der gleiche gewesen, wie zu versuchen, gegen den hundertarmigen Briareos anzukommen.
     Am Ende dieses leicht vorherzusehenden Finales hatte Reynevan schließlich einen Sack über dem Kopf und Fesseln an Händen und
     Füßen. Dann schleppte man ihn hinaus und warf ihn wie ein Paket auf einen

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