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Lux perpetua

Titel: Lux perpetua Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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ich
. . .
«
    »Hör mich an.«
    »Ich heiße«, begann Horn zu erzählen, »weder Horn noch Urban. Das sind angenommene Namen. In Wirklichkeit heiße ich Roth.
     Bernhard Roth. Meine Mutter war Margarete Roth, eine Begine aus dem Schweidnitzer Beginenhaus. Meine Mutter ist von Konrad
     ermordet worden, dem jetzigen Bischof von Breslau.«
    »Wie das mit den Begarden und Beginen in Schlesien gewesen ist, weißt du sicher. Kaum drei Jahre nachdem sie auf dem Konzil
     von Vienne zu Häretikern erklärt worden waren, befahl Bischof Heinrich von Würben, sie gnadenlos zu verfolgen. Zuerst ließ
     man sie durch ein aus Dominikanern und Franziskanern zusammengesetztes Tribunal foltern und schickte dann mehr als fünfzig
     Männer, Frauen und Kinder auf den Scheiterhaufen. Dennoch überlebten viele Begarden, es gelang ihnen auch während der nächsten
     Verfolgungswellen nicht, sie auszurotten, nicht 1330, als Schwenckefeld wütete, und auch nicht 1372, als der Schwarze Tod
     zu uns kam. Die Scheiterhaufen loderten,aber die Begarden kamen davon. Als 1393 die nächste Hetzjagd begann, war meine Mutter vierzehn Jahre alt. Bisher war sie ihnen
     entkommen, vielleicht, weil sie im Beginenhaus nicht weiter auffiel; sie fiel kaum auf, weil sie Tag und Nacht im St.-Michaels-Spital
     schuftete.«
    »Aber dann brach das Jahr 1411 an. Die Seuche kehrte nach Schlesien zurück, und man suchte mit aller Gewalt nach Schuldigen,
     diesmal aber nicht die Juden, sie hatte man als Schuldige bereits satt, man brauchte Abwechslung. Und meine Mutter wurde vom
     Glück verlassen. Nachbarn und Mitbürger lernten schnell. Schon bei den vorangegangenen Hetzjagden hatte sich gezeigt, dass
     es sich auszahlte, jemanden zu denunzieren, dass dies ziemlichen Gewinn brachte. Dass man obendrein auch noch die Gnade der
     Obrigkeit gewann. Und dass es kein besseres Mittel gab, den Verdacht von sich selbst abzuwenden.«
    »Aber vor allem war da Konrad, der älteste Sohn des Herzogs von Oels. Konrad, der schnell herausfand, wer wirklich die Macht
     hatte, verzichtete auf sein ererbtes Herzogtum und bevorzugte eine Karriere als Geistlicher. 1411 wurde er Präpositus des
     Domkapitels von Breslau und gierte danach, Bischof zu werden. Um dieses Amt zu erlangen, musste er allerdings von sich reden
     machen, sich hervortun. Am besten als Verteidiger des Glaubens, als Schrecken der Ketzer, Abtrünnigen und Magier.«
    »Aus den Denunziationen ging hervor, dass trotz aller gottesfürchtigen Anstrengungen in Schweidnitz und Jauer die begardische
     Pest überdauert hatte, dass es noch Katharer und Waldenser gab und dass auch die Kirche des Freien Geistes noch immer bestand.
     Und wieder machte sich das aus Dominikanern und Franziskanern zusammengesetzte Tribunal an die Arbeit. Ihm stand der Schweidnitzer
     Büttel Jörg Schmiede mit Eifer und Enthusiasmus zur Seite. Und ihm ist es zu verdanken, dass sich die verabscheuenswerte Begine
     und Ketzerin Margarete Roth in allen Punkten der Anklage für schuldig bekannte. Dass sie für die Wiederkunft Luzifers gebetet
     hatte.Dass sie Abtreibungen vorgenommen und Schwangere untersucht hatte. Dass sie dem Teufel und dem Rabbiner beigewohnt hatte,
     beiden gleichzeitig. Und dass sie durch diesen Beischlaf einen Bastard empfangen hatte. Mich. Dass sie die Brunnen vergiftet
     und dadurch die Seuche verbreitet hatte. Dass sie auf dem Friedhof Leichen ausgegraben und geschändet hatte. Und schließlich
     das Allerschrecklichste: dass sie in der Kirche bei der Elevation nicht auf die Hostie, sondern auf die Wand geschaut hatte.«
    »Schließlich wurde meine Mutter auf der Wiese hinter der St.-Nikolaus-Kirche und dem Pestfriedhof auf dem Scheiterhaufen verbrannt.
     Vor ihrem Tod zeigte sie Reue, daher wurde ihr Gnade zuteil. Zweifache Gnade. Vor dem Verbrennen wurde sie erwürgt, und man
     verschonte ihren Bankert. Anstatt mich zu ersäufen, wie die Richter es verlangt hatten, wurde ich ins Kloster gegeben. Aber
     zuerst hat man mir befohlen zuzuschauen, wie der Körper meiner Mutter zischte, wie er zusammenschmolz und endlich am Pfahl
     verkohlte. Ich war neun Jahre alt. Ich weinte nicht. Seit diesem Tag habe ich nicht mehr geweint. Nie wieder. Auch nicht in
     den zwei Jahren im Kloster. Hungrig, geschlagen, gedemütigt. Das erste Mal habe ich im Jahre 1414 geweint, zu Allerseelen.
     Als ich die Nachricht erhalten hatte, dass Jörg Schmiede gestorben war, weil er sich erkältet hatte. Ich habe vor Wut geweint,
     weil er mir entwischt

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