Luzie & Leander - 04 - Verblüffend stürmisch
Hinterhuf. So hatte sie auch heute Nacht auf der Weide gestanden. Dieser Mittagsschlaf würde spätestens dann zum Problem werden, wenn sich von hinten ein Traktor oder ein Lastwagen näherte. Denn Chantal wachte garantiert auch durch röhrende Motoren nicht auf.
»Mach du doch mal was«, forderte ich Leander auf, der amüsiert die Szenerie vom Straßenrand aus begutachtete.
»Ich mache doch die ganze Zeit was!«, verteidigte sich Mama erzürnt.
»Ist ja gut«, sagte ich schnell. »Sorry, hab’s nicht mitbekommen. Hab grad geschlafen.« Ich tätschelte beruhigend ihr Knie. Leander nahm einen kurzen Anlauf und schwang sich mit einem einzigen Satz auf Chantals Rücken.
»Fett«, entfuhr es mir anerkennend, denn alleine diese Bewegungsabfolge war wie geschaffen für Parkour. Wenn ihn nur jemand sehen könnte!
»Ich weiß, Luzie. Fett«, giftete Mama. »Nicht jeder kann so schmal und zierlich sein wie du. Du musst wohl damit leben, dass deine Mutter fette Knie hat.«
»Das meinte ich doch gar nicht, Mama! Ich meinte Chantal. Ehrlich. Wirklich!«
Leander pfiff leise durch die Zähne. Chantal setzte den Hinterhuf zurück auf den Boden und spitzte die Ohren. Sie spitzte die Ohren! Also hörte sie Leander? Fasziniert beobachtete ich, wie Leander sanft die Fersen in Chantals mächtigen Leib drückte und sie sich willig aus ihrer Starre löste. Mit einem Ruck zog sie den Zigeunerwagen an, um dann in ihrem schwerfälligen, gemächlichen Gang die Landstraße entlangzuschreiten. Papa rettete sich in einem unsportlichen Manöver zur Seite, um nicht von ihr zertrampelt zu werden. Ihre schweren Hufe zermalmten das Toastbrot zu Semmelmehl.
»Siehst du, es geht doch, Rosa!« Papas angestrengter Tonfall verriet mir, dass die Stimmung im Hause Morgenroth immer noch nicht besser geworden war. Dabei hellte sich meine Laune langsam auf. Eigentlich war es gar nicht so übel hier. Es gab keine andere blöde Familie, die uns begleiten musste, und wir konnten tun und lassen, was wir wollten. Wir mussten nur abends am nächsten Bauernhof ankommen.
Heute Vormittag, als es noch kühler gewesen war, hatte ich mich oben auf das Wagendach gelegt und in den Himmel geschaut, während die Zweige der Bäume neben mir über die Fenster schrammten. Das hatte mir gefallen, auch wenn ich die Stadt, Mogwai und meine Jungs vermisste. Doch das Bedrohungsgefühl von gestern Nacht war verschwunden. Auch Leander verhielt sich gewohnt unaufmerksam und nachlässig, was mir sagte, dass die Schwarze Brigade weit weg war.
Unser einziges Manko war Chantal. Wir hatten heute Morgen noch versucht, das lebhaftere, nettere Pferd der Hänflinge zu ergattern, doch dem war es ähnlich ergangen wie den Hempels. Es hatte eine Kolik erlitten und musste eine Zwangspause einlegen. Zu viele unreife Äpfel.
Doch nun, mit Leander auf ihrem breiten Rücken, lief Chantal gleichmäßiger und flotter als je zuvor. Leander summte vergnügt vor sich hin. Was summte er da überhaupt? Das war keiner von seinen französischen Songs. Nein, diesen Refrain kannte ich, und zwar auswendig. »Ich habe dir ’nen Kuss gestohlen … Du musst schon kommen und ihn dir wiederholen …« Ich nahm Mama die Peitsche aus der Hand und gab Leander damit einen Klatscher auf den Hinterkopf. Er drehte sich nicht einmal zu mir um, obwohl sein Stirntuch verrutschte.
»Luzie, um Himmels willen, nicht! Sie läuft doch! Sonst geht sie uns noch durch!«, kreischte Mama. Hektisch versuchte sie mir die Peitsche aus der Hand zu ziehen. Ich überließ sie ihr widerwillig. Ich hasste es, dass Leander meinen Song summte. Oder mochte ich das? Nein, ich hasste es. Wer Küsse so schnell wieder vergaß, hatte kein Recht, diesen Song zu hören oder gar zu singen.
Mama verstaute die Peitsche griffbereit im Fußraum und rückte ein Stück an mich heran.
»Sollen wir die Zügel zusammen halten, meine Kleine?« Oh je. Das war bereits heute Morgen der Auftakt zu einem ihrer gefürchteten Bettkantengespräche gewesen – mit dem kleinen Unterschied, dass wir es nun auf einem Kutschbock führten. Neben zwei männlichen Zuhörern. Und ich hatte keine Chance zu fliehen. Ich verdrehte die Augen, nahm aber artig den rechten Teil der Zügel in die Hände.
»Ich weiß alles über Verhütung, Mama«, kam ich ihr zuvor. »Hab’s übrigens auch schon vorher gewusst. Wir haben es ja in der Schule durchgenommen.«
»Dann verstehe ich nicht, warum du dachtest …«
»Mama, wie oft denn noch: Ich dachte keine Sekunde lang, dass
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