Luzifers Hammer
kann keine Wunder vollbringen, aber ich muß sie in diesem Glauben lassen.«
Allmählich erzählte sie ihm alles. Die Geschichte von ihrer Schwester Charlotte, die allein in ihrem Zimmer saß und mit leerem Blick die Wände anstarrte, wie sie dann plötzlich zu sich kam und jammerte, wenn sie die Kinder nicht sah. Von Gina, dem schwarzen Mädchen aus dem Postamt, die das Bein gebrochen hatte und in einem Graben lag, bis sie jemand aufklaubte, und wie sie an Wundbrand gestorben war, ohne daß ihr jemand helfen konnte. Von den drei typhuskranken Kindern, die nicht zu retten waren. Von den anderen, die den Verstand verloren hatten. Die Geschichten sollten nicht trivial klingen, waren es dennoch. Sie konnte dem Entsetzen ins Auge blicken. »Ich bringe es nicht mehr fertig, den Leuten weiter falsche Hoffnungen zu machen«, sagte sie schließlich.
»Aber du mußt«, sagte Harvey. »Es ist die wichtigste Sache auf der Welt.« »Warum?«
Er breitete erstaunt die Hände aus. »Weil es so ist. Weil so wenige von uns übrig geblieben sind.«
»Wenn das Leben früher unwichtig war, warum soll es jetzt von Bedeutung sein?« »Weil es wichtig ist.«
»Nein. Was ist der Unterschied zwischen sinnlosem Überleben in Washington und einem sinnlosen Überleben hier?«
»Beides ist sinnlos.«
»Den anderen bedeutet es was. Denjenigen, die auf euer Wunder hoffen.«
»Ich kann nicht zaubern. Warum ist es so wichtig, daß andere Menschen von einem abhängen? Warum macht dies mein Leben lebenswert?«
»Manchmal ist dies das einzige, was zählt«, sagte Harvey. Er war sehr ernst. »Und dann stellt man fest, daß da noch mehr dahintersteckt, bedeutend mehr. Doch zunächst hat man seine Pflicht zu erfüllen, eine Pflicht, die man nicht wirklich auf sich genommen hat, und man hält Ausschau nach weiteren Aufgaben. Und nach einiger Zeit merkt man, daß es von Bedeutung ist, zu leben.« Er lachte, doch sein Lachen klang eher hysterisch als froh. »Ich weiß es, Maureen.«
»Sag’s mir.«
»Willst du das wirklich hören?«
»Ich weiß nicht. Ja, doch. Ich will.«
»Nun gut.« Er erzählte es ihr, und sie lauschte seinem Bericht: über die Vorbereitungen vor dem Hammerfall, über seine Auseinandersetzung mit Loretta, über seine Zweifel und seine Schuldgefühle wegen seiner Affäre mit ihr, nicht so sehr, weil er mit ihr geschlafen hatte, sondern weil er nachher an sie dachte und sie mit seiner Frau verglich, und wie es ihm dadurch schwerer fiel, Loretta ernst zu nehmen.
Er fuhr fort, und sie hörte zu, aber sie begriff nicht richtig.
»Und dann waren wir schließlich hier«, sagte er. »In Sicherheit. Maureen, du kannst dir dieses Gefühl nicht vorstellen, wenn man weiß, daß man sicher weiß, daß man noch eine Stunde zu leben hat. Daß es eine ganze Stunde gibt, wo du nicht zuschauen mußt, wie einer, den du liebst, zerfetzt wird wie eine alte Stoffpuppe. Ich verlange nicht, daß du das alles begreifst, aber soviel solltest du wissen: Was dein Vater hier in diesem Tal aufbaut, ist das Wichtigste auf dieser Welt. Es ist unbezahlbar und jedes Opfer wert, zu wissen … zu wissen, daß irgendeiner irgendwo Hoffnung hat, daß er sich sicher fühlen kann.«
»Nein. Das ist ja das Entsetzliche. Alles falsche Hoffnungen! Das ist der Weltuntergang, Harvey! Die ganze verdammte Welt bricht auseinander, und wir versprechen etwas, was es nicht gibt, was niemals Wahrheit wird.«
»Ja«, sagte er. »Manchmal denke ich auch so. Eileen ist da unten im großen Haus, wie du weißt. Wir wissen, was vor sich geht.«
»Was macht es dann aus, wenn wir den Winter nicht überleben?«
Er stand auf und trat auf sie zu. Sie saß ganz still da, und er stand dicht bei ihr, ohne sie zu berühren, aber sie spürte, daß er ganz nahe war. »Erstens«, sagte er. »Es ist nicht hoffnungslos, das mußt du wissen. Hardy und dein Vater haben alles verdammt gut geplant. Etwas Glück gehört dazu, aber wir haben eine Chance. Komm schon, gib’s zu!«
»Vielleicht, wenn wir Glück haben. Aber was ist, wenn uns das Glück nicht gewogen ist?«
»Zweitens«, fuhr er unbeirrt fort. »Nehmen wir an, es ist alles ein Traum, und wir verhungern im Winter. Nimm das mal an, Maureen. Trotzdem ist es wert. Wenn wir nur für eine Stunde, für eine einzige lausige Stunde jemandem jenes Gefühl ersparen können, das mich auf den Rücksitz meines Wagens warf … Maureen, es ist wert zu sterben, wenn man nur einen einzigen Menschen vor solchen Gefühlen bewahren kann. Das ist es,
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