Lycana
schimpfte. Franz Leopold achtete nicht auf die anderen Dracas. Zu viele Fragen schwirrten durch seinen Kopf. Je mehr er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass Ivy nicht alles erzählt hatte. Er würde der Sache auf den Grund gehen. Darauf konnte sie sich verlassen.
DER KUSS
Die Dame sah von dem Buch auf, in dem sie gelesen hatte. Ihr geschminktes Gesicht zeigte keine Anzeichen von Überraschung, als sich ihr der junge Mann mit einer linkischen Verbeugung näherte.
»Das geht in Ordnung«, sagte sie zu dem Diener, der den Besucher mit sichtlichem Missfallen betrachtete. »Du kannst dich zurückziehen. Ich rufe dich, wenn ich deiner bedarf.« Sie machte eine Handbewegung, als wollte sie eine Katze verscheuchen.
Dem Dienstboten blieb nichts anderes übrig, als ihr zu gehorchen. Schließlich war diese seltsame Lady ein Gast des Hauses. Der - zumindest in seinen Augen - noch junge erste Baron Ardilann of Ashford Arthur Guinness liebte es, sich mit exzentrischen Besuchern zu umgeben, sodass der Diener sich nicht zu viele Gedanken über die Dame mit dem weiß gepuderten Gesicht und den blutrot geschminkten Lippen machte. Tagsüber war sie nicht zu sehen, doch vom frühen Abend bis spät in die Nacht schloss sie sich den Dinnerpartys, Bällen und Spielabenden an, die der Erbe des Brauereiimperiums - und damit vermutlich auch der reichste Mann Irlands - täglich zu geben pflegte. Solch dubiose Gestalten wie der junge Mann, den er eben in den Salon geführt hatte, gehörten allerdings üblicherweise nicht zu Arthur Edward Guinness’ Gästen! Der Diener schlug sich nun mit dem schwerwiegenden Problem herum, ob er seinen Herrn von seiner Ankunft in Kenntnis setzen sollte oder ob es ihm in seiner Stellung nicht zustand, die schäbige und zerrissene Kleidung und den raubtierartigen Gestank, den der Fremde verströmte, überhaupt zu bemerken.
Die Dame, die vom Dilemma des Dieners nichts ahnte, wartete, bis dieser die Tür geschlossen hatte und sich seine Schritte entfernten. Sie wies den Besucher an, die Tür noch einmal zu öffnen und sich zu versichern, dass der Gang leer war, ehe sie ihn zu sich rief und ihm einen Stuhl möglichst weit weg von ihrem anwies. Nicht dass sie sich an dem Raubtiergeruch gestört hätte, den er aus jeder Pore zu verströmen schien. Es war eher die Tatsache, dass Vampire und Werwölfe sich noch nie voneinander angezogen gefühlt hatten, von wenigen unrühmlichen Ausnahmen abgesehen. Dennoch gab es immer wieder Abmachungen und Verträge zwischen ihnen. Und die Dame wusste, dass man auf der Suche nach Verbündeten manches Mal auch Individuen wählen musste, mit denen man sich normalerweise nicht abgeben würde.
»Hier auf Ashford seid Ihr also«, brummte der Werwolf missgelaunt. »Ich habe Euch seit Stunden gesucht. Wolltet Ihr nicht in der Fischerhütte der Mönche auf mich warten? Ich habe alles abgesucht: die Hütte, die Ruinen von Cong Abbey - ja, ich war sogar in Pigeons’ Hole und habe in Giant’s Cave, dem Hügelgrab, nachgesehen.«
»Und dann kam dir der Einfall, dass ich mich nicht wochenlang in einem Erdgrab oder einer Höhle verkrieche, um auf dich zu warten? Wie klug von dir«, sagte sie mit kaum unterdrücktem Spott in der Stimme. Er knurrte und zeigte die Zähne.
Die Dame sah ein, dass es ihren Plänen nicht förderlich wäre, ihn weiter zu erzürnen, daher bemühte sie sich um ein Lächeln.
»Schließlich hast du mich ja gefunden. Ich wusste bereits, als ich dich das erste Mal traf, dass du einen klugen Kopf auf den Schultern trägst, Mac Gaoth.«
»Ihr braucht mir keinen Honig ums Maul zu schmieren, Madam. Ihr habt Eure Ziele und ich die meinen. Wir arbeiten nur zusammen, solange wir beiden dienen können.«
»Ja, und wenn das hier vorbei ist, dann bist du der mächtigste Werwolf von Connemara, ja im ganzen Westen Irlands!«, schmeichelte sie, denn trotz seiner Beteuerungen war sie sich sicher, dass er dafür empfänglich war.
Und wirklich, ein Lächeln erhellte das hagere Gesicht, das ihn normalerweise viel älter erscheinen ließ, als er wirklich war. Sein magerer Leib und das graubraune Haar, das in verfilzten Strähnen herabhing, trugen zu diesem Eindruck bei. Sein Äußeres hätte sie auf ihrer Suche nach einem geeigneten Werkzeug sicherlich abgeschreckt, wenn sie nicht das Feuer in seinen Augen bemerkt hätte, das ihn zu verzehren drohte. Diesen Ausdruck kannte sie genau: die Flamme der Rebellion, genährt von der Unzufriedenheit mit dem
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