Lycana
Haarschopf. Ein seltsam flatterndes Gefühl breitete sich in ihm aus. Franz Leopold öffnete die Tür und verneigte sich, als Ivy und Seymour zwischen den Büschen hervortraten und auf den Friedhof zugingen. Sie zeigte sich nicht überrascht, ihn hier zu sehen, doch sie war auch eine Meisterin darin, ihre Züge zu beherrschen und Gedanken zu verbergen.
»Ihr seid spät dran«, sagte er mit strenger Stimme und merkte, wie er gegen seinen Willen lächelte.
»Der Unterricht hat bereits begonnen? Ich bin untröstlich!«, gab Ivy zurück und erwiderte das Lächeln. Sie trat ein und Franz Leopold schloss hinter ihr die Pforte.
»Und? Wie ich sehe, bist du mit deinen Übungen schon fertig, oder hast du dich unerlaubt entfernt?«
»Würde ich so etwas tun?«
Sie lachte. Seymour ließ ein tiefes Brummen hören. »Wie lief es?«, erkundigte sie sich in bemüht neutralem Ton.
»Oh, nicht schlecht. Wir haben ja sozusagen den Praxiseinsatz in den Mooren geübt und profitieren nun von dieser interessanten Erfahrung.«
Zu seiner Überraschung senkte Ivy den Blick. »Es tut mir leid.«
»Was? Dass du unsere Unterstützung abgelehnt und uns zurückschleppen hast lassen?« Er konnte nicht verhindern, dass der Ärger wieder in ihm hochschwappte.
»Es ist ein wunderbares Gefühl, so treue Freunde zu haben, und gerade weil ich mich euch und eurem Wohl so verpflichtet fühle, musste ich diese Entscheidung treffen. Ich hätte um euch fürchten müssen und um unsere Mission.« Sie seufzte tief.
»Dann ist eure Mission also geglückt, nachdem ihr euch unser entledigt hattet.«
Ivy schüttelte den Kopf. »Nein, wir sind zu spät gekommen. Sie waren schon weg.«
»Wer? Und was habt ihr dort getan? Ich will verstehen, was so wichtig ist, dass wir von Aillwee hergeeilt sind. So dringlich, dass dieses Scheitern dich in eine solch verzweifelte Stimmung stürzt. Nein, streite es nicht ab, ich kann es fühlen, obwohl du es vor mir zu verbergen suchst.« Er griff nach ihrer Hand und zwang sie, sich ihm zuzuwenden.
»Es ist kompliziert. Wo soll ich beginnen?«
»Wie wäre es mit dem Anfang? Und glaube mir, meine geistigen Fähigkeiten sind durchaus so ausgeprägt, dass sie auch komplizierte Zusammenhänge erfassen können!«
Ivy überlegte kurz, dann sagte sie: »Vielleicht begann es mit dem Stein, den wir cloch adhair nennen, den alten Stein, da er schon immer da gewesen zu sein scheint.«
»Ja, erzähle uns von dem Stein und von deiner Mission, die dich durch die Moore und in die Berge geführt hat!«, erklang unvermittelt Alisas Stimme. Franz Leopold fuhr herum. Sie wurde nicht nur in der Kunst des Gestaltwandels immer besser, sie verstand es inzwischen für seinen Geschmack auch viel zu gut, sich unbemerkt anzuschleichen. Oder begann Ivys Gegenwart, seine Sinne zu trüben? Ivy entzog ihm ihre Hand. Gemeinsam schlenderten sie zu den Mauern der alten Kirche. Hier drin waren sie ungestört.
»Wo ist Luciano?«
»Er und Malcolm haben unter Ainmires Aufsicht noch eine Extrastunde. Er macht sich langsam. Luciano, meine ich.« Über Malcolm verlor Alisa kein Wort, aber Franz Leopold fing einen Gedanken der Enttäuschung darüber auf, dass seine Fortschritte so zaghaft waren. Er grinste sie an, doch Alisa mied seinen Blick.
»Nun, Ivy?«
»Der cloch adhair wird schon auf einigen Tafeln in Oghamschrift erwähnt, die vor Christi Geburt angefertigt wurden. Von gebildeten Angehörigen der ersten hier lebenden keltischen Gesellschaft. Und doch sprechen sie nicht davon, ihn angefertigt zu haben! Er scheint noch älter zu sein. Vielleicht stammt er aus der Zeit, in der die Megalithen und Dolmen entstanden, die Steinkreise und Newgrange. Der cloch adhair hat die Form der Insel Irland und es schlummern unglaubliche Mächte in ihm. Er muss tief aus der Erde stammen, gleicht aber in seinem Äußeren dem Marmor von Connemara mit seinen Erzeinschlüssen. Seine Kraft ist so stark, dass sie pulsiert wie ein Herz. Und so ist es nicht falsch, wenn ich sage, er ist das Herz Irlands und das Band aus Marmor unter dem Moor Irlands Seele. Jedenfalls haben die Druiden den Stein von Generation zu Generation an den Mächtigsten von ihnen weitergeben. Seine Aufgabe war es, das Herz Irlands in der Höhle oben in den Beanna Beola, wie die Kelten die Twelve Bens nannten, zu bewachen. Doch wie das so ist mit den mächtigen Artefakten dieser Erde, ein Geheimnis bleibt nicht lang ein Geheimnis und dann erwachen Begehrlichkeiten. Als die christlichen Mönche die
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