Lycana
ich ihn einmal aufgenommen habe. Und dann warst du vor wenigen Nächten auf dem Friedhof von Oughterard, nicht wahr? Du hieltst dich in der Kirche verborgen - eine kluge Entscheidung, denn die meisten Wesen der Nacht scheuen die für sie schädliche Aura.«
Bram öffnete tonlos den Mund und schloss ihn dann wieder. Sein Blick huschte über den Friedhof, doch hier gab es keine Kirche, in die er sich hätte flüchten können.
»Nein, hier gibt es keine Zuflucht für dich«, bestätigte das Mädchen. »Vor mir würde dich eine Kirche allerdings auch nicht schützen«, fuhr sie im Plauderton fort. Sie schien Gefallen an ihrer Unterhaltung zu finden.
»Wie kommst du jetzt hierher?«, stieß er hervor. »Du bist mir doch nicht etwa gefolgt?«
Bram sah sich bereits Oscar gegenüberstehen. Wenn er ihm diese Geschichte erzählte, würde sein Freund ihn vermutlich an einen Nervenarzt empfehlen!
Das Mädchen mit dem Silberhaar lachte wieder. »Aber nein. Warum sollte ich einem Menschen folgen? Ich weiß nicht, warum das Schicksal uns hier wieder zusammenführt. Ich kann nur ahnen, dass es noch etwas mit uns vorhat, also wundere dich nicht, wenn wir uns wiederbegegnen. Doch nun mach dich auf den Heimweg. Dies ist für einen Menschen ein gefährlicher Ort.«
»Wann werde ich dich wiedersehen?«, drängte Bram, der sie nicht gehen lassen wollte.
»Woher soll ich das wissen? Ich kann dem Schicksal nicht in seine Karten schauen.«
»Weißt du, ich interessiere mich schon sei Langem für die Wesen der Nacht. Ich sammle Geschichten aus verschiedenen Ländern. Es ist faszinierend und ich werde irgendwann ein Buch darüber schreiben. Du wirst darin vorkommen, auch wenn mir kein Mensch diese Begegnung glauben wird. Ich weiß, dass es wahr ist. Dass ich dich mit eigenen Augen gesehen habe!«
Die Miene des Mädchens wurde nachdenklich. Sie wollte gerade etwas sagen, als Bram aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. Es ging so schnell, dass er das Tier erst sah, als es sich drohend vor dem Mädchen auf baute. Es war ein riesiger weißer Wolf!
Bram wollte weglaufen, aber seine Füße waren wie festgewurzelt. Er starrte das Mädchen und die weiße Bestie an, die aus gelben Augen zurückstarrte.
»Es wird Zeit zu gehen«, sagte sie leise.
Endlich fand Bram seine Stimme wieder. »Er wird mich jagen und über mich herfallen, wenn ich auch nur einen Schritt tue, nicht wahr?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Nein, Seymour wird dich gehen lassen, wenn du den Friedhof verlässt und dich auf direktem Weg in dein Quartier begibst.«
»Darf ich noch eine letzte Frage stellen?«
»Aber ja.«
»Wie heißt du?«
Das Mädchen lachte leise, der Wolf knurrte. »Ivy-Máire aus der Familie der Lycana.«
Bram Stoker verbeugte sich. »Ich danke dir, Ivy-Máire, für mein Leben, denn es lag in deiner Hand, und für eine Erfahrung, die ich niemals vergessen werde. Du hast gesagt, das Schicksal hat uns beide hierhergebracht und wird uns wieder zusammenführen. Ich wünsche mir, dass du recht behältst.«
Dann verließ er den Friedhof. Er schlug einen großen Bogen um die Vampirin und den Wolf, die sich nicht von der Stelle rührten. Erst als er das Tor hinter sich gelassen hatte, drehte er sich noch einmal um, um einen letzten Blick auf dieses märchenhafte Wesen zu erhaschen, doch sie und auch der Wolf waren verschwunden.
Der Morgen dämmerte bereits herauf und noch immer fehlte von den Lycana und ihren Begleitern jede Spur. Ivy und einige andere warteten ungeduldig am Tor, obwohl Mabbina sie schon zweimal aufgefordert hatte, in den Turm zurückzukehren und ihre Särge aufzusuchen.
»Wir müssen wissen, was sie herausgefunden haben!«, beschwor Ivy immer wieder. Unruhig ging sie auf und ab.
»Und wenn sie nicht kommen? Das kann vieles bedeuten«, warf Luciano ein. »Entweder haben sie noch nichts gefunden und werden sich den Tag über irgendwo verborgen halten, um gleich nach Sonnenuntergang weiterzumachen …«
»… oder sie haben die Werwölfe aufgespürt und sie eingekreist«, fuhr Alisa fort.
Ivy nickte. Ein Muskel zuckte an ihrer Schläfe. »Vielleicht kämpfen sie in diesem Augenblick miteinander, während die Sonne sich drohend dem Horizont nähert. Die Werwölfe müssen nur auf Zeit spielen und sie festhalten, dann wird die Sonne den Kampf für sie entscheiden.«
Luciano legte den Arm um ihre Schulter, allerdings erst nachdem er sich versichert hatte, dass Franz Leopold nicht in der Nähe war. Kurz fiel ihm auf,
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