Lycana
zielstrebig durch die Gänge, immer tiefer ins Herz des Berges. Waren die Wände zuerst noch aus grauem Granit gewesen, so durchzogen nun wieder Adern von weißem Marmor und dunklem Erz das die Gänge umhüllende Gestein. Ivy landete auf dem Boden und wandelte sich in ihre normale Gestalt zurück.
Wir sind gleich da. Bleibt in eurer Fledermausgestalt, riet sie den Freuden. Es kostet euch zu viel Kraft, wenn ihr euch in dieser Nacht noch zweimal verwandeln müsst. Sie sah sich um. Außerdem hätte ich euch nicht hierherbringen dürfen. Neben den Mitgliedern der Werwolfsippe dürfen nur Tara, Seymour und ich hier herauf kommen. Wenn Cameron und Taber euch in der Nacht von Neumond nicht nach Aughnanure begleitet hätten, hätten wir sie dennoch unten bei dem Dolmen zurücklassen müssen. Doch nun verhaltet euch ruhig. Wenn wir in der Höhle sind, fliegt zur Decke hinauf und wartet, bis ich euch rufe.
Endlich schien das Ziel erreicht: eine große, domartige Höhle, deren Wände glatt geschliffen wirkten. In der Mitte sahen sie ein großes steinernes Podest. Es wunderte Franz Leopold nicht, dass es leer war. Die drei suchten sich eine geeignete Stelle und hängten sich dann nebeneinander kopfüber an eine Steinkante, sodass sie die Höhle gut überblicken konnten.
Ivy ging auf einen der abzweigenden Gänge zu und spähte hinein. Sollte sie ihn rufen? Da erklang von der anderen Seite die Stimme des alten, fast zahnlosen Werwolfs, an dessen Namen sie sich nicht erinnern konnte.
»Du bist zurückgekehrt. So, so, der Stein ist es nicht und die Sippe auch nicht. Aber vermutlich weißt du das, oder? Wo sind Seymour und die Druidin?« Er sah sich suchend um.
Ivy ging auf ihn zu und legte zur Begrüßung die Hand an die Brust. »Tara und Seymour sind nicht mitgekommen. Und ich bin nur hier, weil ich dir eine Frage stellen möchte.«
»Du bist alleine gekommen?« Er ließ seine vom Alter getrübten Augen wandern. »Das ist ganz schön - ja, mutig von dir.«
Ivy kam es so vor, als habe er etwas anderes sagen wollen, doch sie ließ sich nicht ablenken.
»Als ich mit Tara vor ein paar Nächten hier war, sagte ich: Die Sippe könnte überallhin gehen, und vielleicht dauert es Jahrzehnte oder Jahrhunderte, bis man den Stein wieder aufspürt! Und da hast du entgegnet: Überallhin mit dem cloch adhair? Nein! Du sagtest, ich würde Unsinn reden. Ich dachte erst, du würdest dich darauf beziehen, dass Werwölfe sich nicht in Fledermäuse oder Vögel verwandeln und nicht wie wir fliegen können, doch heute Nacht habe ich verstanden. Du hast etwas anderes gemeint, nicht wahr?«
»Und wenn schon? Was kümmert es dich, was ich gedacht oder gemeint habe? Ich bin ein alter Werwolf, dem Tod näher als dem Leben. Ein Werwolf ohne seine Sippe kann sich nur noch zurückziehen und den Tod erwarten.«
»Gut, wenn du mir so ausweichst, dann muss ich direkter fragen: Was weißt du über den cloch adhair? Warum kann man ihn nicht überall hinbringen?«
»Man könnte vielleicht schon«, sagte der Alte zögernd.
Ivy musste sich zusammenreißen, dass sie ihn nicht packte und schüttelte. »Aber?«, drängte sie.
»Es würde ihm nicht gefallen.«
Ivy starrte ihn verblüfft an. »Dem Stein?«
»Aber ja! Er ist nicht irgendein Stein, er ist der cloch adhair, das Herz von Connemara. Er würde Widerstand leisten. Ich weiß nicht, ob man ihn brechen könnte, würde man versuchen, ihn weiter wegzutragen, doch er wäre zum Sterben verurteilt. Er kann nur hier die Kräfte der Erde sammeln und die Energieströme in sich speichern. An einem anderen Ort, ja gar in einem anderen Land, wäre er nur ein Stein. Ein Stück schöner Marmor in Form der irischen Insel.«
Ivy strich über den Armreif, der einst mit dem cloch adhair verbunden gewesen war. »Dann ist es mit ihm wie mit dem Reif. Er verliert seine Kräfte.«
»Ja, und damit seinen Wert.«
Ivy sah den Werwolf scharf an. »Wie weit können sie ihn von hier wegbringen, ehe sie seinen Widerstand spüren und seinen Kräften Schaden zufügen?«
Der Werwolf grinste sein zahnloses Lächeln. »Du bist doch ein schlaues Mädchen. Verrat du es mir!«
Ivy überlegte, dann sagte sie überzeugt: »So weit das Band des Marmors von Connemara reicht!«
Der Werwolf nickte. »Ja, das Band darf nicht zerrissen werden.«
Ivy verbeugte sich. »Ich danke dir für deine Auskunft. Nun wissen wir, wo wir zu suchen haben.«
»Wenn ihr ihn findet, was werdet ihr mit ihm machen?« Er klang plötzlich kläglich. »Er
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