Lycana
entgegengehalten, dass er ihr gar nichts zu sagen habe, da sie immerhin seine Mutter sei. Oscar war sich daraufhin in Vorwürfen ergangen, die darin gipfelten, dass er ihr beginnende Senilität attestierte. Bram hatte sich des Eindrucks nicht erwehren können, dass Lady Wilde niemals vorgehabt hatte, die Männer beim Überfall auf ein Waffenlager zu begleiten, und dass nur die ihr ungerechtfertigt erscheinende Einmischung ihres Sohnes diese starrsinnige Haltung hervorgerufen hatte. Er drängte sie in einen Konflikt, den es nie hätte geben müssen. Wie konnte sie nun zurückbleiben, ohne dass es für Oscar so aussah, als würde sie ihm gehorchen? Bram konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. Von außen betrachtet war es einfach nur kindisch! Doch für die Lady schien es wichtig, ihre Ehre zu bewahren. Also flüchtete sie sich, wie bei ihrem Geschlecht üblich, in einen Anfall von Migräne, an dem ihr Sohn Schuld trage und der es ihr unmöglich mache - so sehr sie es auch bedaure -, einen nächtlichen Ritt zu ertragen!
Während Bram noch über die Wildes nachdachte, schlug er die Decke zurück, schwang sich aus seinem Bett und begann, sich wieder anzukleiden. Erst als er nach Hut und Umhang griff, wurde ihm bewusst, was er tat. Er lächelte. Die Wildes waren vergessen. Stattdessen stand das schmale Gesicht vor seinen Augen und das wundervolle Haar. Den Gedanken an den Wolf schob er hastig beiseite. Was konnte es schon schaden, einen kleinen Spaziergang zu unternehmen und dabei einen Blick auf den Friedhof zu werfen? Allein der Gedanke, sie könnte da sein, ließ sein Herz schneller schlagen.
Was war er doch für ein Narr! Dennoch knöpfte er seinen Mantel zu und öffnete leise die Tür. Er legte weder Wert darauf, dem Wirt zu begegnen, noch seinem Freund Rechenschaft ablegen zu müssen. Was der von diesem Ausflug halten würde, konnte er sich auch so lebhaft vorstellen. Bram zog eine Grimasse und schlüpfte lautlos aus dem Haus. Es war eine kühle, regnerische Nacht, aber er genoss die frische Luft in tiefen Zügen. Er schritt so schnell aus, dass ihm schon bald warm wurde. Ein erwartungsvolles Prickeln rann über seinen Rücken, als er die Tür in der Friedhofsummauerung öffnete. Rasch sah er sich um. Er konnte niemanden sehen. Allerdings war der Friedhof von Oughterard auch zu groß, um von dieser Stelle aus vollständig überblickt zu werden. Bram strich zwischen den Gräbern der Minenarbeiter hindurch, passierte die der Fischer und anderen Dorf bewohner und ging bis in die Ecke, in der die Massengräber aus der Zeit der großen Hungersnot zu finden waren. Er durchquerte dreimal die Reste des Kirchenschiffs, doch er sah und fühlte nichts, das ihm die Anwesenheit eines fremden Wesens angezeigt hätte. Enttäuscht verließ er den Friedhof. Nun hätte er eigentlich zum Gasthaus zurückkehren müssen. Er war müde, seine Beine noch von dem langen Marsch der vorherigen Nacht erschöpft, doch er konnte dem Drang nicht widerstehen. Noch einmal machte er sich auf den Weg zu der Burgruine, die Aughnanure hieß, wie er inzwischen wusste, und zu dem kleinen Friedhof, auf dem er das Mädchen getroffen hatte.
Falls die Freunde gehofft hatten, sich nach Ivys entscheidendem Hinweis an der Suche nach dem Stein beteiligen zu dürfen, sahen sie sich enttäuscht. Luciano frohlockte zwar, da die Lycana anscheinend wichtigere Sorgen hatten, als an ihre Bestrafung zu denken, doch Alisa und Franz Leopold waren gleichermaßen aufgebracht.
»Lieber würde ich mich strafen lassen, wenn ich sie anschließend begleiten dürfte«, schimpfte Alisa, und Franz Leopold glaubte ihr. Sie war eine mutige Vampirin, das musste er anerkennen - auch wenn sie nur eine Vamalia war.
Die Sonne war kaum verglüht, als sich die Lycana und die Servienten der anderen Familien im Hof trafen. Tara hatte eine grobe Karte von Connemara auf den Boden gezeichnet. Franz Leopold konnte die Küstenlinie erkennen, einige Berge, darunter die Twelve Bens, die sie in der Nacht zuvor aufgesucht hatten, und die beiden großen Loughs Corrib und Mask. Nun nahm sie einen angespitzten Zweig und begann, eine Fläche zu schraffieren, die sich von der Küste bei einem Ort namens Clifden in einem leichten Bogen nach Südosten zog.
»Hier liegen die Höhlen der Twelve Bens, hier die Seen, an deren Ufer der Marmor zu finden ist, und an dieser Stelle befindet sich die Erzmine.« Tara pikte mit dem Stock in den Boden, dass ein kleiner Trichter entstand.
»Die Spur der
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