Lycana
zögern, einen Menschen zu erschießen. Und ihr Vater? Und Cowan? Würden sie bereits in dieser Nacht dazu gezwungen sein, zu töten, um an die Waffen heranzukommen? Und was war mit ihr selbst? Sie hatte gebettelt, mit dabei sein zu dürfen, ein Teil der Verschwörung zu sein und ernst genommen zu werden. Sie hatte behauptet, erwachsen zu sein. Das Gefühl des Abenteuers hatte sie in einen Zustand spannungsgeladener Erregung versetzt. Die nächtlichen Treffen, das Pläneschmieden, sie hatte es genossen. Doch nun, da die Lichter von Galway vor ihnen auftauchten, wünschte sie sich zum ersten Mal, sie wäre noch ein Kind und würde von all dem nichts mitbekommen, wüsste nicht um die Gefahr und würde, von einer liebenden Mutter behütet, ihren kindlichen Träumen nachhängen.
Es war überraschend einfach gewesen, Seymour in das versteckte Verlies zu locken - zumindest nachdem Ivy dort hinuntergestiegen war. Im letzten Moment hatte der Wolf gezögert, doch Franz Leopold gab ihm einen Stoß, dass er die steinerne Rampe hinabschlitterte. Ivy fing ihn auf.
»Es tut mir so leid. Sei still und warte auf uns.« Seymour hatte den Braten bereits gerochen und packte ihr Gewand, doch sie ließ sich nicht aufhalten. Sie löste sich in Nebel auf und schlüpfte durch seine Fänge. Als Fledermaus flatterte sie den Schacht hinauf. Seymour jaulte. Rasch verschlossen die Freunde den Zugang. Das Heulen erstarb. Die O’Flahertys hatten ganze Arbeit geleistet. Schließlich wollten sie damals sicher nicht ständig von den flehentlichen Schreien der im Verlies Verschmachtenden gestört werden!
Ivy wandte sich ab. Ihre Miene war wie von Schmerzen verzerrt.
»Was ist?«, fragte Luciano verständnislos.
Alisa legte ihr den Arm um die Schulter. »Es ist ja nur dieses eine Mal, weil uns keine andere Wahl bleibt. Er wird es verstehen und dir verzeihen!«
»Hoffentlich!«, antwortete Ivy kläglich.
Franz Leopold drängte zum Auf bruch und lief vor ihnen die Treppe hinunter. »Nun macht schon! Für eure Gefühlsduselei ist Zeit, wenn wir zurück sind!«
Unten angekommen zügelte er seinen Schritt. Im Hof waren die anderen Erben in kleinen Gruppen unterwegs und Mabbina saß auf der Brüstung des kleinen Türmchens und ließ den Blick schweifen. Möglichst unauffällig schlenderten sie zum Tor, schlüpften hindurch und überquerten die Zugbrücke. Erst als sie den Fluss hinter sich gelassen hatten, liefen sie los.
»Jetzt schnell, dass sie uns nicht einholen, selbst wenn sie es sicher bald merken und die Verfolgung aufnehmen«, rief Franz Leopold, der an Ivys Seite blieb. Alisa lief hinter Luciano und spornte ihn an.
»Wie weit müssen wir denn?«, keuchte er.
»Nur ein Stück über Oughterard hinaus«, gab Ivy Auskunft. Luciano sagte nichts und konzentrierte sich stattdessen aufs Laufen.
Erstaunlich schnell erreichten sie ihr Ziel. Die drei kamen neben Ivy zum Halten und sahen sich um.
»Willst du uns deinen Plan nicht verraten?« Franz Leopold ließ den Blick über die Steinhalden gleiten, die ärmlichen Hütten und die seltsamen hölzernen Konstruktionen über den Löchern im Boden.
»Ist das das Erzbergwerk, von dem du uns erzählt hast?«, wollte Alisa wissen. »Ist das nicht faszinierend? Seht euch das dort drüben mal an. Sie nutzen die Kraft der Pferde, die sie hier im Kreis gehen lassen, um über diese Umlenkung dort das Seil über die Winde zu ziehen und damit die schweren Körbe nach oben zu heben.« Alisa trat an den Schacht und schaute in die Tiefe.
Luciano verdrehte die Augen. »Mich würde viel mehr interessieren, warum wir hier sind und wie das unser Problem lösen soll, dass wir uns nicht in Falken oder andere Flugtiere verwandeln können.«
Ivy öffnete den Mund, doch Alisa war schneller. »Es ist der Marmor, aus dem sie das Erz schlagen, nicht wahr? Dort unten sind seine Kräfte noch stärker!«
Ivy nickte. »Ja, wir werden uns mitten hineinbegeben und uns von seiner Energie umhüllen lassen.«
»Und dann wandeln wir uns zu Falken!«, rief Franz Leopold begeistert. »Ja, das wird funktionieren. Wir hatten schon im Moor oben keine Schwierigkeiten, die Gestalt von Wölfen anzunehmen.«
Luciano schwieg, doch seine Gedanken waren für Franz Leopold so klar, als stünden sie auf seiner Stirn geschrieben. Er hatte Angst, dass er es trotz der Kräfte der Erde nicht schaffen würde. Auch Ivy las seine Ängste und legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm.
»Ja, so ist es. Die Seele von Connemara wird uns die Kraft
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