Lycana
hatte. Er sah Ivy an, wie sie vor ihm stand, den Kopf ein wenig zur Seite gelegt, die türkisfarbenen Augen aufmerksam auf ihn gerichtet. Der Fahrtwind spielte mit ihren langen silbernen Locken. Sie war so klug und so mutig und so schön …
Er spürte, wie etwas seine Brust einengte, und wünschte, sie würde den Blick abwenden. Und dennoch gab es nichts, was er in diesem Moment mehr fürchtete. Ein Bild trat in seinen Geist. Erst neblig trüb, dann immer klarer. Es ließ ihn trocken schlucken. Seine Hände krampften sich um die Reling, so als müsse er sich selbst daran fesseln, um sich daran zu hindern, etwas Ungehöriges zu tun.
»Hier seid ihr!«, erklang plötzlich Lucianos Stimme neben ihm. »Was macht ihr da?«, fragte er misstrauisch.
Zum ersten Mal in seinem Dasein war er erleichtert über Lucianos Auftauchen und zugleich enttäuscht und wütend. Natürlich war Alisa nicht weit. Ivy wandte sich ihnen zu, als wäre nichts geschehen. - War denn etwas geschehen?
»Wir haben das Ufer der Insel abgesucht.«
»Abgesucht? Nach was denn?«, wollte Alisa wissen. Und so berichtete Ivy von dem Boot, das sie am Morgen in der Bucht gesehen hatten.
»Du siehst Gespenster«, sagte Luciano, als sie endete.
»Ach, und die Spuren in der Grotte und in der alten Hütte stammten auch von Gespenstern?«, ereiferte sich Alisa.
»Nein. Doch warum sollten sie uns verfolgen? Um uns zu vernichten?« Er lachte auf. »Wohl kaum. Sie sind nur zu fünft!«
»Offen angreifen werden sie uns sicher nicht«, gab ihm Alisa recht. »Wenn sie uns oder den Lycana schaden wollen, dann müssen sie schon zu einer List greifen. Sie hätten sich der Menschen bedienen können, während wir auf Dunluce in unseren Särgen lagen. Da wir noch immer unversehrt sind, nehme ich an, dass diese Menschen keine Vampirjäger sind.«
»Vampirjäger, die mit Vampiren reisen? Welch seltsame Vorstellung.« Luciano lachte.
»So abwegig ist das gar nicht«, widersprach Ivy. »Ein gemeinsamer Feind kann zu den seltsamsten Allianzen führen.«
»Wie wahr«, murmelte Luciano, und seine Miene verdüsterte sich. Sie alle wussten, woran er dachte. An seine eigenen Clanmitglieder in Rom, die die Familie und den Pakt der Vampire verraten hatten.
»Außerdem kann das durchaus ihre Absicht gewesen sein, dann jedoch erwies es sich als schwieriger, in Dunluce Castle einzudringen, als sie erwartet hatten. Und nun folgen sie uns mit ihren menschlichen Verbündeten, um auf eine gute Gelegenheit zu warten.«
Die vier schwiegen eine Weile. Es war Alisa, die die Stille brach. »Wenn du mit deiner Befürchtung recht hast, Ivy, dann haben wir Glück, dass wir heute Abend erwacht sind. Rockfleet hat uns nicht gerade viel Schutz geboten! Und wenn sie uns beobachtet haben, hätten sie uns während des Tages dort überfallen können …«
Luciano schluckte trocken. »… die Särge öffnen, die Herzen durchbohren und uns die Köpfe abschlagen.«
»Überwinde deine legendäre Feigheit endlich«, rief Franz Leopold ärgerlich. »Schließlich bist du ja noch in einem Stück und unsere Verfolger sind nirgends mehr zu entdecken.«
»Äh, nicht ganz«, widersprach Alisa und deutete nach Süden. »Seht ihr das Schiff dort? Es sieht so aus, als habe es auf uns gewartet!«
Die anderen fuhren herum. Die Insel, von deren Burg aus Grace O’Malley einst die Bucht und das offene Meer überwacht hatte, hatten auch ihre Verfolger genutzt, um ungesehen auf ihre Beute zu lauern. Die Position war so gewählt, dass sie ihnen gar nicht ungesehen entkommen konnten, ganz gleich, in welche Richtung sie sich wandten. Nun, da sie die beiden Schiffe der Lycana entdeckt hatten, wurden Segel gesetzt. Allerdings waren die Seeleute des fremden Schiffes klug genug, den Abstand so zu wählen, dass sie einem unaufmerksamen Betrachter nicht aufgefallen wären.
Luciano meinte nach einer Weile sogar, sie würden ihnen gar nicht folgen, doch Ivy und Franz Leopold waren nach wie vor davon überzeugt. Alisa betrachtete unentschlossen den kleinen Fleck weißer Segel, der sich nur schwach vom Nachthimmel abhob. »Ich bin mir nicht sicher. Sollen wir Murrough davon erzählen? Er ist ein Seemann und kann es vielleicht besser einschätzen.«
»Was bringt es für einen Vorteil, wenn wir es ihm sagen?«, widersprach Franz Leopold, der als Einziger nichts von dem Vorschlag hielt.
»Er könnte sich zum Beispiel entschließen, den Tag über wieder durchzusegeln. Dann erschweren wir es den Verfolgern, mit uns Schritt zu
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