Lycana
Sommersprossen und den etwas vorstehenden Zähnen noch immer keine Schönheit, doch die Ängstlichkeit in ihren Augen wich ab und zu einer Art grimmigen Entschlossenheit. Sie suchte auch nicht mehr dauernd Schutz bei Malcolm, der inzwischen fast zum Mann gereift war. Alisa unterdrückte einen Seufzer. Es hatte im vergangenen Jahr Augenblicke gegeben, da waren sie sich nahgekommen, und sie hielt die Erinnerung an das Gefühl gern in sich wach. Doch dann musste irgendetwas schiefgegangen sein. Alisa mochte nicht glauben, dass die Chance für immer vertan war. Ein leichter Schmerz regte sich bei dem Gedanke in ihr. Rasch sah sie zu Ivy hinüber, die in der Ecke am kalten Kachelofen neben Seymour kauerte. Franz Leopold stand bei ihr - schon wieder! - und sprach auf sie ein. Alisas Blick kehrte zu Malcolm zurück, der gerade zwei gekreuzte Schwerter an der Wand betrachtete. Wie zufällig schlenderte sie durch den Saal und trat neben ihn. Was sollte sie sagen? Es musste etwas Geistreiches sein oder etwas Lustiges, das ihn zum Lachen brachte, auf keinen Fall aber zu kindisch oder albern war. Alisa suchte in ihrem Kopf, fand aber nur Leere und Dunkelheit.
»Zum Glück ist diese Seereise zu Ende«, eröffnete Malcolm zu ihrer Erleichterung das Gespräch. Alisa nickte zustimmend, obwohl sie sich an Bord wohlgefühlt und die Reise als aufregend empfunden hatte.
»Ich hoffe, es geht nun endlich mit unserer Ausbildung weiter. Schließlich sind wir nicht nach Irland gereist, um die See und öde Landschaften zu sehen. Wir nehmen dieses Jahr auf uns, um von den Fähigkeiten der Lycana zu profitieren.«
Alisa wollte ihm nicht widersprechen, fand aber die Landschaften durchaus faszinierend. Außer ihrer Reise nach Rom war sie bisher noch nie aus Hamburg herausgekommen und kannte nur den Hafen und die dicht an dicht bebauten Straßen der Stadt. So lockte es sie, das weite Land, das man hinter der Küste erahnen konnte, kennenzulernen. Dem zweiten Punkt konnte sie dagegen aus tiefstem Herzen zustimmen.
»Ja, ich hoffe auch, dass es mit unserem Unterricht bald weitergeht. Ist es nicht unglaublich, welche Fähigkeiten die Lycana im Laufe der Zeit erworben haben? Die Demonstration am ersten Abend war wundervoll. Wie Donnchadh die Fledermäuse gerufen und sich dann in eine von ihnen verwandelt hat, und Catriona, die sich einfach in Nebel auflösen kann.«
»Möglich«, sagte Malcolm gedehnt. Ihre Begeisterung für die Iren schien ihm zu weit zu gehen. »Ich kann nichts dazu sagen. Wir waren ja nicht dabei. Aber so spektakulär kann es nicht gewesen sein.«
Alisa spürte, dass er ihre Zustimmung wollte, doch das ging ihr zu sehr gegen den Strich. »Ich möchte alles lernen, was sie können. Stell dir nur vor, welche Vorteile ihre Künste bringen. Die Gestalt eines jeden Tieres annehmen - oder gar sich einfach in Nebel auflösen zu können. Keine Tür, kein Gitter kann einen auf halten!«
»Ja, das ist sicher hilfreich«, gab Malcolm widerstrebend zu. »Und ich bin froh, dass sich meine Befürchtungen nicht bestätigen.«
»Welche Befürchtungen?«, wollte Alisa wissen.
»Wie jeder weiß, sind die Iren ein zurückgebliebenes Volk, das noch im Mittelalter verhaftet scheint.« Sie unterdrückte einen Laut des Protests. »Dennoch hatte ich von den besonderen Fähigkeiten der Lycana gehört, und da sie ja keine Zivilisation in unserem Sinne kennen und in der wilden Natur leben, schien es mir glaubhaft. Daher habe ich zugestimmt, auch dieses Jahr der Akademie beizuwohnen, obwohl ich schon bald das Ritual vollziehen werde, das mich zu einem vollwertigen Mitglied des Clans machen wird. Deshalb - und weil ich dich wiedersehen wollte. Nicht erst, wenn ihr alle zu eurem Jahr nach London kommt.«
Alisa spürte, wie eine seltsame Hitze in ihr aufwallte. Dabei hatte es aus seinem Mund ganz natürlich geklungen. Sie sah zu Boden. Was sollte sie darauf antworten?
»Ich habe mich sehr gefreut, als ich dich in Dunluce bei den anderen Vyrad entdeckte«, sagte sie leise, ohne ihn anzusehen. Es schien ihr im Augenblick besser, ihre nackten Zehen zu betrachten. Da schoben sich auch seine Füße in ihr Blickfeld. Im Gegensatz zu ihr trug er die weichen Schlupfschuhe, die die Lycana ihnen angeboten hatten. Der Stoff seiner Hose und Tunika war in einem warmen Braunton gehalten. Alisa trug ein blasses Blaugrün. Noch immer blickte sie nicht auf, gerade weil er so nah an sie herangetreten war. Seine Hand tauchte vor ihrem Gesicht auf, legte sich unter ihr
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