Lydia Strong 01 - Im Herzen die Sünde
Frau das. Angeblich wollte er sich vor vielen Jahren zum Chirurgen ausbilden lassen, aber dann hatte er eine Art Nervenzusammenbruch. Er musste so viele Medikamente nehmen, dass er nicht einmal mehr als Pfleger zugelassen wurde. Also begnügte er sich damit, als Aushilfe im St. Vincent zu arbeiten.
Ich weiß noch, wie es war, als der Junge starb. Meine Frau und ich haben die Trauerfeier besucht. Der Vater war vollkommen am Boden zerstört, wirklich, er konnte sich kaum aufrecht halten. Ein paar Monate später erzählte meine Frau mir, seine Frau habe ihn verlassen und sei zu ihrer Familie nach Colorado zurückgegangen. Als ich hörte, dass er sich in der Kirche zum Heiligen Namen als freiwilliger Helfer engagiert, dachte ich mir, dass er nun wohl gläubig geworden ist.«
»Oder er hat sich dort nach geeigneten Opfern umgesehen«, sagte Jeffrey.
»Oder beides«, sagte Lydia. »Ich fürchte, auf uns wartet noch mehr Gartenarbeit.«
Juno saß allein in der letzten Kirchenbank. Er hatte die Hände auf dem Schoß gefaltet und ließ den Kopf hängen. Die glanzvolle Aura, die ihn in Lydias Augen immer umgeben hatte, schien verblasst, und Lydia wusste nicht genau, wie sie sich ihm nähern sollte. Er wirkte zerbrechlich. Sie beobachtete ihn, während Polizisten in der Kirche hin und her liefen und sich im Flüsterton unterhielten, als würde gerade eine Messe abgehalten.
Die Mauer des Kirchgartens, die Blumen und selbst das Gesicht der Heiligen Jungfrau waren mit Blut bespritzt. Auf der Türschwelle lag ein Rosenkranz. Lydia hatte kaum noch Hoffnung für Pater Luis. Sie bat die Polizisten, mit dem Umgraben des Gartens noch kurz zu warten, weil sie sich mit Juno unterhalten wollte. Aber nun, da sie ihn vor sich sah, seine starke Angst spürte, wusste sie nicht, wo sie anfangen sollte. Zögernd ging sie auf ihn zu.
Juno hörte Lydias Schritte und spürte ihre Hemmungen. Er wollte ihr sagen, dass sie sich keine Gedanken machen solle und er längst Bescheid wisse. Aber die Stimme versagte ihm, und so saß er nur stumm und geduldig da. Sie ahnte ja nicht, dass er nicht nur seinen Onkel verloren hatte, den Mann, der ihn aufgezogen hatte, sondern auch seine Eltern.
Für die Polizisten schien Juno unsichtbar zu sein. Sie waren nur wenige Minuten nach seinem Notruf in die Kirche gestürmt. Er hatte sie in den Wohn- und Büroräumen gehört und dann draußen im Garten, wo ihre aufgeregten Stimmen schlagartig verstummt waren. Er konnte nur ahnen, was sie dort gefunden hatten, denn niemand wollte ihm etwas sagen. Also wartete er. Der Wind trug ihr Flüstern durch die geöffnete Tür, und Juno verstand Worte wie Blutspritzer, Handabdruck, blutige Kleidung .
Als zwei Officer an ihm vorbeiliefen, sagte der eine leise: »Der arme Kerl hat wirklich ein tragisches Leben. Sein Onkel war sein einziger Angehöriger. Ich erzähle es dir später.« Juno hatte die Stimme des Mannes wiedererkannt. Er hieß Jimmy O’Neill und hatte als Kind zusammen mit Juno die Bibelstunden in der Kirche besucht.
Zunächst war er verwirrt und fragte sich, über wen Jimmy gesprochen hatte; dann erst merkte er, dass er selbst gemeint war. Er lachte ungläubig auf und dachte: Bis heute war mein Leben alles andere als tragisch . Er verstand nicht, worauf der Mann angespielt hatte. Auf seine Blindheit vielleicht?
Und dann dämmerte es ihm. Juno erinnerte sich an damals, an den Spielplatz hinter der Kirche. Er geriet in eine gedankliche Abwärtsspirale, und plötzlich fielen ihm Jimmys Hänseleien wieder ein. Jimmy hatte sich über Junos Eltern lustig gemacht und behauptet, sie seien auf grausame Art und Weise umgekommen. Juno erinnerte sich an das nachfolgende Gespräch mit seinem Onkel. Und dann an nichts mehr. Es war, als hätte sich eine undurchdringliche Wand vor seine Erinnerungen geschoben. Wieder hatte er die Worte seines Onkels im Ohr: »Jimmy hat dir eine Version erzählt und ich eine andere. Sieh in dein Herz und entscheide selbst, wem du dein Vertrauen schenken willst. Würdest du jemandem glauben, der dir erzählt, es gebe keinen Gott?«
Juno wusste nicht mehr, wofür er sich entschieden hatte. Über das Schicksal seiner Eltern hatte er nie wieder nachgedacht und die Erzählung seines Onkels in einem abgelegenen Winkel seines Unterbewusstseins versteckt wie einen Edelstein im Saum eines Mantels. Sie war wie ein geheimer Schatz, den er besaß und der sein Leben prägte. Nun schien der Saum gerissen, und zutage kam kein Edelstein, sondern ein
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