LYING GAME Und raus bist du
Oprah.«
Emma zuckte gespielt gleichgültig mit den Achseln. Dies war die erste Lektion im Unterrichtsfach Pflegekind-Psychologie gewesen – die meisten Kids machten Blödsinn, wenn sie nicht genug Aufmerksamkeit oder Zuwendung erfuhren. Sie hatten keine Eltern, die ihnen bei den Hausaufgaben halfen, zu ihren Wettkämpfen kamen oder sie dazu ermutigten, an Forschungswettbewerben teilzunehmen. Niemand las ihnen abends Gutenachtgeschichten vor oder setzte ihnen leckere Abendessen im Familienkreis vor.
Plötzlich fiel ihr etwas auf. In gewisser Hinsicht war das ihr allererstes Abendessen mit einer richtigen Familie. Mit Becky hatte sie entweder Fastfood im Auto oder auf Tabletts vor dem Fernseher gegessen. An den anderen Abenden hatte Emma alleine eine Schüssel Cornflakes vertilgt, während Becky dem leeren Innenhof einen langen Vortrag hielt.
Wieder verspürte sie Neid in sich aufsteigen, aber sie drängte das Gefühl schnell beiseite und dachte wieder an den Brief. Sutton ist tot. Emma würde nie mit ihrer Schwester am Familientisch sitzen.
Alle schwiegen eine Weile. Gabeln kratzten über Teller, Löffel gegen Servierschüsseln. Mr Mercers Piepser ging los, er überprüfte ihn und steckte ihn wieder in die Halterung zurück. Emma erwischte ihn ein paar Mal dabei, wie er sie anstarrte. Schließlich legte er die Handflächen auf den Tisch. »Okay, das macht mich wahnsinnig. Seit wann hast du denn eine Narbe am Kinn?«
Emma hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Alle drehten sich um und schauten sie an. »Äh, welche Narbe denn?«
»Die da.« Er deutete auf ihr Gesicht. »Die habe ich noch nie gesehen.«
Laurel kniff die Augen zusammen. »Oh, richtig. Komisch.«
Mrs Mercer runzelte die Stirn.
Emma berührte ihr Kinn. Sie hatte die Narbe seit einem Unfall auf dem McDonalds-Spielplatz. Sie war von einem Klettergerüst gefallen und war ein paar Sekunden lang bewusstlos gewesen. Als sie wieder zu sich kam, erwartete sie, Beckys besorgtes Gesicht über sich zu sehen. Aber ihre Mutter war nirgends zu sehen. Emma fand sie schließ lich auf der anderen Seite des Spielplatzes, wo sie auf einem Schaukelpferd saß und sich die Augen ausheulte. Die Knie hatte sie so hoch gezogen, dass ihre Füße in die kleinen Steigbügel passten. Als Becky Emmas blutüberströmtes Gesicht sah, weinte sie nur noch heftiger.
Das konnte Emma Mr Mercer ja nun nicht erzählen. Sie hob ihr Wasserglas an den Mund. »Die habe ich schon seit einer Weile. Offenbar kennst du mich nicht so gut, wie du annimmst.«
»Weil du ein Mädchen namens Emma bist?«, warf Suttons Mom ein.
Emma erstickte beinahe an ihrem Wasser. Ein sarkastisches, beinahe gerissenes Lächeln lag auf dem Gesicht von Suttons Mom. »Und wie geht es Emma übrigens heute so?«, fragte Mr Mercer mit einem Augenzwinkern.
Mrs Mercer sah Emma an und wartete offenbar auf eine Antwort. Sie machte doch Witze, oder? Emma war sich nicht mehr länger sicher. Sie vertraute auf gar nichts mehr. »Hm, Emma ist ein bisschen durcheinander«, sagte sie leise.
Und meine Familie ahnte nicht, dass sie diesmal die reine Wahrheit sagte.
13 – Der Körper auf dem Boden
Anderthalb Stunden später ging Emma den Gehweg von Suttons Straße entlang und bog dann rechts in den großen Park ein, der am Ende des Wohnviertels lag. Sie hatte sich nach reiflicher Überlegung dazu entschlossen, Mrs Mercers Rat zu befolgen und Aufschläge zu üben. Vielleicht wurde sie ja wie durch ein Wunder deutlich besser und konnte morgen Nisha auf dem Platz in den knackigen, von einem Tennisrock bedeckten Hintern treten. Oder wenigstens nicht auf ihrem Gesicht landen, wenn sie einem angeschnittenen Ball nachhechtete.
Ihr BlackBerry, der neben Suttons iPhone in der Tennistasche lag, piepte. Alex, stand auf dem Display.
»Du lebst also noch!«, schrie Alex, als Emma dranging. »Du wolltest mich doch gestern Abend anrufen. Ich hatte schon Angst, du seist in den Canyon gestürzt!«
Emma lachte grimmig. »Nein, ich bin immer noch da.«
»Und?«, fragte Alex. »Ist deine Schwester so toll, wie du gehofft hast? Habt ihr euch angefreundet?«
»Hm …« Emma wich einem Motorroller aus, den jemand auf dem Bürgersteig abgestellt hatte. Sie konnte kaum glauben, dass sie erst einen Tag hier war. »Sie ist super. Wir verstehen uns fantastisch.« Hoffentlich klang ihre Stimme nicht zu forciert fröhlich. Instinktiv schaute sie sich um, als belausche sie jemand.
»Bleibst du eine Zeit lang bei ihr? Wirst du bei ihr einziehen? Ist
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