LYING GAME - Weg bist du noch lange nicht
lange an und wünschte sich, es könne mit ihr kommunizieren. Sie wünschte sich, Sutton könnte ihr irgendetwas über sich erzählen, darüber, welche Geheimnisse sie gehütet hatte und was ihr widerfahren war.
Hinter sich hörte Emma ein Kichern, dann spürte sie ein warmes Kitzeln im Nacken, als atme jemand direkt hinter ihr. Sie wirbelte mit wild pochendem Herzen herum, aber vor ihr lag nur die leere Garage. Dann blickte sie durch die schmalen Fenster und sah, wie ein SUV langsam am Haus der Mercers vorbeifuhr. Sie rannte zum Fenster und spähte hinaus. Ja, es war derselbe weiße Lincoln wie beim letzten Mal. Und diesmal erkannte sie auch die beiden Gesichter hinter der Windschutzscheibe.
Es waren die Twitter-Zwillinge.
10
Fisch auf dem Trockenen
Klonk. Klonk.
Emma schoss in Suttons Bett hoch. Der Mond malte einen silbernen Lichtstreifen auf den Teppich und der Bildschirmschoner von Suttons Computer spielte eine Diashow von glücklichen Lügenspiel-Pyjamapartys ab. Auf Suttons Flatscreen lief eine Folge Daily Show . Auf dem Nachttisch lag eine umgedrehte Ausgabe von Die Glasglocke, denn Emma hatte beschlossen, das Buch noch einmal zu lesen, nachdem sie sich mit Ethan vergangene Woche darüber unterhalten hatte. Die Tür zum Flur war geschlossen. Alles war genauso, wie Emma es vor dem Schlafengehen hinterlassen hatte.
Klonk.
Das Geräusch kam vom Fenster. Emma warf die Decke beiseite. Erst letzte Woche hatte sie einen Traum gehabt, der genauso begonnen hatte. Im Traum hatte sie aus dem Fenster geschaut und Becky in der Einfahrt stehen gesehen. Ihre Mutter hatte sie gewarnt und sie gebeten, vorsichtig zu sein. Dann war sie verschwunden.
Emma stapfte zögernd zum Fenster und spähte hinaus. Das warme, goldene Licht der Straßenlaterne erleuchtete den Feigenkaktus, der neben dem Gehweg stand. Laurels Jetta parkte direkt darunter. Und tatsächlich stand jemand in der Einfahrt vor dem Basketballkorb. Sie erwartete beinahe, Becky zu sehen, aber dann trat die Gestalt ins Licht, den Arm erhoben, um einen weiteren Kiesel ans Fenster zu werfen.
Es war Ethan.
Emma sog heftig die Luft ein und wich vom Fenster zurück. Schnell zog sie einen anthrazitfarbenen BH unter Suttons durchsichtigem Trägerhemdchen an und schlüpfte in ein Paar gestreifte Schlafanzughosen. Dann ging sie wieder zum Fenster, winkte und schob die Scheibe hoch. Mrs Mercer hatte sie noch nicht verschließen lassen und sie gab widerstandslos nach. Die Nachtluft war drückend heiß, nicht der Hauch einer Brise regte sich.
»Hast du schon mal davon gehört, dass es inzwischen Telefone gibt?«, rief sie leise.
Ethan blinzelte zu ihr empor. »Kannst du rauskommen?«
Emma lauschte nach Geräuschen auf dem Flur – einer Toilettenspülung, dem Klimpern von Drakes Hundemarke. Die Mercers würden sie umbringen, wenn sie Emma dabei erwischten, wie sie sich am Tag ihrer Verhaftung aus dem Haus schlich. Aber das Haus war still. Emma schob das Fenster weiter hoch und schlüpfte durch die Öffnung.
Ein dicker Ast ragte aufs Dach hinaus; Emma ergriff ihn mühelos und schwang sich daran zu Boden. Kein Wunder, dass Sutton diesen Fluchtweg gern benutzte. Emma landete im Kies und ging lächelnd auf Ethan zu.
Der lächelte nicht. »Was um alles in der Welt ist denn heute in dich gefahren? Hast du den Verstand verloren?«
»Pssst.« Emma schaute sich um. Die Straße war beinahe unheimlich ruhig, alle Fenster dunkel, alle Autos standen in den Einfahrten. »Das war die einzige Möglichkeit, aufs Polizeirevier zu kommen.«
»Und warum wolltest du dorthin?«
Emma setzte sich auf den großen Felsbrocken im Vorgarten. »Ich musste Suttons Akte einsehen.«
Emma erzählte Ethan vom Inhalt der Akte und dem Vorfall am Bahnübergang. Er riss die Augen weiter und weiter auf. »Sutton hat das Leben ihrer Freundinnen aufs Spiel gesetzt«, schloss Emma. »Und irgendetwas muss Gabby in jener Nacht zugestoßen sein. Sie ist im Krankenhaus gelandet.«
»Wow.« Ethan ließ sich neben sie auf den Felsen sinken. »Und niemand hat Sutton verpfiffen?«
»Dem Protokoll nach nicht.« Ihre Beine berührten sich ganz leicht. Emma spürte den rauen Stoff von Ethans Jeans durch ihre dünne Schlafanzughose.
Ethan drehte sein Handy in den Händen. »Warum, glaubst du, haben sie dichtgehalten?«
»Ich weiß es nicht. Der Zug-Streich war kein Spaß. Sie hätten alle dabei draufgehen können«, sagte Emma und betrachtete einen Schatten, der über das Fenster eines Nachbarhauses
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