Lynettes Erwachen
verbracht hat?“, fragte Ramsey mit einem anzüglichen Lächeln im Gesicht.
Das war der Gipfel der Unverschämtheit. All die guten Vorsätze lösten sich in nichts auf.
„Machen Sie sich nicht lächerlich, Mr. Ramsey. Heute Morgen hatte ich noch ein schlechtes Gewissen. Diese Bemerkung verdeutlicht mir umso mehr, dass meine Entscheidung richtig ist.“ Lynette legte ihm das Kündigungsschreiben vor die Nase.
Irritiert starrte er auf die Papiere. „Das ist nicht Ihr Ernst, Ms. Harllow?“
„Es ist mein voller Ernst. Unser Gespräch von letzter Woche hat mir verdeutlicht, dass ich in der Kanzlei keine Zukunft habe. Es ist an der Zeit, eigene Ziele in Angriff zu nehmen.“
„Wollen Sie mehr Geld?“
„Nein, Mr. Ramsey, es geht nicht um Geld.“
Da sie so gut wie nichts ausgab – wann sollte sie das tun – hatte sie mehr als genug Geld. Das Erbe ihrer Mutter rührte sie ebenfalls nicht an.
Ramsey lehnte sich in seinem Sessel zurück, legte die Zeigefinger aneinander und musterte sie kritisch. „Es geht um die Partnerschaft, nicht wahr?“
„Ich erwarte nichts mehr von Ihnen. Nehmen Sie die Kündigung an oder nicht?“
„Das werde ich nicht tun. Während wir hier sitzen und plaudern, verpasst die Kanzlei einen Gerichtstermin. Der gute Ruf von Ramsey & Smith steht auf dem Spiel. Lassen Sie sich von Evelyn die Akte geben, und gehen Sie ins Gericht.“
Hart und bestimmend erfüllte die Stimme das Büro. Für einen kurzen Moment war sie versucht, zu gehorchen. Doch die alte Lynette war ebenso in ihr wie die neue, und so reagierte sie, wie sie es immer getan hatte. Die zutreffenden Gesetzesbestimmungen für Kündigungsrecht tauchten vor ihrem geistigen Auge auf. Im Bruchteil einer Sekunde analysierte sie das Für und Wider und kam zu dem Entschluss, dass das Gesetz auf ihrer Seite stand. Auf eine wohlwollende Beurteilung war sie nicht angewiesen. Das Angebot, den Urlaub verfallen zu lassen, machte sie ihm gar nicht erst.
Seelenruhig erhob sich Lynette. „Ich bin noch zwei Stunden im Büro und räume den Schreibtisch auf. So lange haben Sie Zeit, die Papiere zu unterschreiben und mit mir über die Abfindungssumme zu sprechen. Sie werden lernen müssen, ohne mich klarzukommen. Wir können uns gern vor Gericht einigen.“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und verließ das Büro.
Als sie sich mit zitternden Händen eine große Tasse Kaffee eingoss, spürte sie Evelyns skeptischen Blick auf sich.
„Ist alles in Ordnung, Ms. Harllow?“
„Ja, alles bestens. Würden Sie bitte mit ins Büro kommen?“
„Aber natürlich.“ Evelyn griff nach einem Block und einem Kugelschreiber.
„Das werden Sie nicht brauchen.“
Aufatmend ließ sich Lynette in den Sessel fallen und strich über die Lehne. Der Blick aus dem Fenster faszinierte sie immer noch. Die Räume der Kanzlei lagen im fünfzehnten Stock eines Gebäudes mitten in der Innenstadt Londons. „Ich werde diesen Ausblick vermissen.“
„Sie haben es also tatsächlich getan?“
„Er dachte tatsächlich, sein missratener Sohn hätte die Nacht bei mir verbracht. Als könnte nur ein Ramsey … Egal! Ich tue das Richtige. Hier komme ich nicht weiter, und dieser Sumpf der Korruption widert mich an. Sollte es einem Anwalt nicht darum gehen, einem Unschuldigen zu dessen Recht zu verhelfen?“
„Das bringt jedoch nicht so viel Geld ein.“
„Das ist wahr. Aber Geld macht nicht glücklich, ganz und gar nicht.“
„Ms. Harllow?“
„Ja.“
„Darf ich fragen, was diesen Wandel bewirkt hat? Sie sind heute Morgen eine völlig andere Frau.“
„Das habe ich Ihnen zu verdanken.“
„Mir?“
„Ja! Immerhin waren Sie es, die mich zwang, mit Mr. Drake essen zu gehen.“
Die kleine, ältere Frau begann zu strahlen. „Das freut mich für Sie, Ms. Harllow. Sie haben wirklich ein bisschen Glück verdient. Er ist ein so netter Mann.“
„Das ist er. Ob es mich glücklich macht, werden wir noch herausfinden müssen.“
„Sehen Sie sich doch an. In all den Jahren habe ich Sie nie so strahlen sehen. Es gibt nicht mehr nur Arbeit und Karriere in Ihrem Leben. Was haben Sie denn jetzt vor?“
„Ich werde bei Benjamin Lloyd in die Kanzlei einsteigen.“
„Das ist gut. Sie hätten bereits vor drei Jahren mit ihm gehen sollen. Er ist ein guter Anwalt.“
Die Bürotür wurde ungehalten aufgerissen. John Ramsey stand darin, füllte den ganzen Rahmen aus. Mit stoischem Blick trat er an den Schreibtisch und legte die unterschriebenen Papiere
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