Lynne Graham
kam Ella erst drei Tage vor der Hochzeit ihrer Eltern aus dem Krankenhaus. Sieben Wochen lang musste Kathy um das Leben ihres Kindes bangen. Einmal war es eine Anämie, dann eine schwere Infektion, die sie Tag und Nacht am Bett ihrer Tochter wachen ließ. Das große Geschäftsimperium erforderte Sergios Aufmerksamkeit, doch er stand Kathy und Ella, so gut es ging, bei. In den schwärzesten Momenten konnte sie sich immer auf ihn verlassen. Nie verließ ihn der Mut, und er weigerte sich, ein schlimmes Ende auch nur in Betracht zu ziehen. Das gab ihr Kraft und Hoffnung, wenn sie wieder einmal um das Leben ihres Kindes fürchtete.
Er hatte vorgeschlagen, dass sie in sein Apartment ziehen sollte, doch sie wohnte lieber in einer Suite in dem Hotel gegenüber dem Krankenhaus. Sergio war fest entschlossen, Ella und ihre Heiratspläne vor der Presse geheim zu halten, bis er eine offizielle Erklärung abgeben würde. Kathy war davon überzeugt, dass diese Geheimniskrämerei nur dazu diente, ihre beschämende Vergangenheit so lange wie möglich zu verbergen. Ihr war klar, dass man alles über sie ausgraben und ans Licht zerren würde, sobald sie Mrs. Torrente war. Allein bei der Vorstellung wurde ihr vor Angst ganz elend. Doch am schlimmsten war das Wissen, dass die Demütigung auch Sergio träfe – und eines Tages ihre Tochter. Und so verliefen ihre Treffen mit Sergio äußerst diskret. Sie sahen einander ausschließlich im Krankenhaus, wo sie niemals wirklich allein waren.
Sie hatten beschlossen, sich in Italien das Jawort zu geben, doch alle Einzelheiten der Hochzeitsvorbereitungen hielt Sergio vor ihr geheim. Kathy hatte nur Nola und Bridget auf die Gästeliste setzen lassen, und die Freundinnen waren außer sich vor Freude bei der Aussicht auf ein luxuriöses Wochenende im sonnigen Italien. Das Einzige, was Kathy sich selbst aussuchte, war ihr Hochzeitskleid.
Achtundvierzig Stunden vor der Feier erhielt sie einen Anruf von der Hotelrezeption, dass Mr. Torrente zu ihrer Suite unterwegs sei. Kathy war überrascht, denn sie hatte nicht erwartet, Sergio vor der Abreise noch einmal zu sehen. Sie hielt mit dem Packen inne und warf einen schnellen Blick in den Spiegel, bevor sie zur Tür ging.
Als sie öffnete, war sie erstaunt, einen vollkommen Fremden vor sich zu sehen. Ein korpulenter Mann mit schütterem Haar und traurigen braunen Augen lächelte sie an. „Ich bin Abramo Torrente, Sergios Bruder.“
„Mein Gott …“ Sie hatte ganz vergessen, dass ihr Bräutigam überhaupt einen Bruder hatte. „Bitte kommen Sie herein.“
Zwischen den beiden Brüdern bestand keine Ähnlichkeit. Abramo wirkte nicht gerade sexy, sondern sah eher wie ein Kuschelbär aus. Während Sergio körperlich fit und durchtrainiert war, hatte Abramo die ungesunde Blässe eines Menschen, der sich selten im Freien aufhielt. Er war der Sohn aus der zweiten Ehe von Sergios Vater.
„Mein Bruder hat Ihnen nichts über mich erzählt, nicht wahr?“ Abramo schien scharfsinniger zu sein, als er aussah.
„Leider nicht.“
„Vor acht Jahren hat Sergio zum letzten Mal mit mir gesprochen. Seitdem weigert er sich, mich zu sehen. Er ist genauso dickköpfig wie unser Vater“, erklärte Abramo seufzend. „Aber er ist immer noch mein Bruder.“
„Acht Jahre sind eine lange Zeit.“
„Sergio ist unschuldig den Lügen meiner Mutter zum Opfer gefallen“, erklärte Abramo. „Er war der Liebling unseres Vaters, und das verübelte sie ihm. Ich liebte meinen Bruder, aber auch ich war neidisch auf ihn. Als ich begriff, dass Sergios Fall meine Chancen bei Grazia erhöhte, wurde ich genauso schlimm wie meine Mutter. Ich stand daneben und rührte keinen Finger, um ihm zu helfen, das zurückzugewinnen, was rechtmäßig ihm gehörte.“
„Grazia?“, hakte Kathy nach. „Wer ist Grazia?“
„Sergio hat Ihnen doch bestimmt von ihr erzählt?“
„Nein.“
Abramo machte ein erstauntes Gesicht. „Mit Anfang zwanzig verlobte Sergio sich mit Grazia. Ich liebte sie ebenfalls“, gestand er und verzog das Gesicht. „Als Sergio enterbt wurde und unser Vater mir die Weingüter Azzarinis vermachte, weigerte Grazia sich, ihn zu heiraten. Ich nutzte die Gunst der Stunde und hielt um ihre Hand an, ehe sie es sich erneut anders überlegte.“
Kathy wunderte sich über seine Aufrichtigkeit. Abramo schien zu hoffen, dass Sergio ihm seinen damaligen Verrat verzieh. „Ich verstehe nicht, warum Sie mir all das erzählen.“
„Das Leben hat bei uns allen seine Spuren
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