Lyonesse 1 - Herrscher von Lyonesse
die Wachen abgelöst. Aillas ging wieder zurück nach achtern. Doch statt sich sogleich in seine Kabine zurückzuziehen, stieg er die Leiter zum Achterdeck hinauf. Die Segel waren noch immer prall mit Wind gefüllt, Kielwasser, glitzernd und phosphoreszierend, sprudelte hinter dem Heck auf. Auf die Achterreling gelehnt schaute Aillas dem funkelnden Spiel des Lichts zu.
Ein Schritt, direkt hinter ihm, der Luftzug einer Bewegung. Arme umklammerten seine Hüften. Er fühlte sich ruckartig emporgehoben und ins Nichts geworfen. Eine kurze Wahrnehmung: stürzender Himmel, wirbelnde Sterne, dann der Aufschlag aufs Wasser. Hinunter, hinunter, in den wirbelnden Sog des Kielwassers – und das einzige Gefühl noch immer Verblüffung. Er tauchte auf an die Oberfläche. Ein rascher Blick. Schwärze in allen Richtungen. Wo war die
Smaadra?
Er öffnete den Mund, wollte schreien, schluckte einen Mundvoll Wasser. Hustend und keuchend versuchte er ein zweites Mal zu schreien, doch ein heiseres Krächzen war alles, was er zustande brachte. Der nächste Versuch geriet besser, doch auch er nur dünn und kläglich, kaum mehr als der Schrei eines Meeresvogels.
Das Schiff war entschwunden. Aillas trieb allein auf den Fluten, im Zentrum seines privaten Kosmos. Wer hatte ihn in die See geworfen? Trewan? Aber warum sollte Trewan eine solche Tat begehen? Es gab keinen Grund. Aber wer dann? Die Spekulationen zerrannen in seinem Geist. Sie waren irrelevant, waren Teil eines anderen Seins. Seine neue Identität gehörte den Sternen und den Wellen ... Die Beine wurden ihm schwer. Er wälzte sich im Wasser herum, entledigte sich seiner Stiefel und ließ sie sinken. Dann befreite er sich von seinem Wams, das sich ebenfalls voll Wasser gesogen hatte. Jetzt war das Schwimmen weniger anstrengend. Der Wind blies aus dem Süden. Aillas schwamm mit dem Rücken zum Wind. Das war bequemer als gegen den Wind, wo ihm die Wellen ins Gesicht peitschten. Die Wogen hoben ihn hoch und trugen ihn vorwärts auf ihrem Kamm.
Er fühlte sich leicht und frei; seine Stimmung war fast fröhlich, obgleich das Wasser, das er nach dem ersten Schock als erträglich empfunden hatte, jetzt wieder eiskalt schien. Mit einschmeichelnder Verstohlenheit kehrte das Wohlgefühl in ihn zurück. Aillas empfand Frieden. Jetzt würde es leicht sein zu entspannen, sich in das Wohlgefühl der Mattigkeit hinabgleiten zu lassen.
Doch wenn er einschlief, würde er niemals wieder aufwachen. Schlimmer noch, er würde nie erfahren, wer ihn ins Meer geworfen hatte. »Ich bin Aillas von Watershade!«
Er gab sich einen Ruck, sammelte seine Kräfte. Er begann Schwimmbewegungen zu machen, und erneut durchdrang Kälte seinen Körper. Wie lange trieb er schon in dieser dunklen See? Er blickte zum Himmel. Die Sterne waren weitergewandert: Arkturus war untergegangen, und Wega stand tief im Westen ... Für kurze Zeit verließ ihn ein Teil seines Bewußtseins, und er empfand nur ein verschwommenes Halb-Bewußtsein, das zu flackern begann und zu erlöschen drohte ... Irgend etwas schreckte ihn auf. Ein Schauer von Empfindung kehrte in ihn zurück. Im Osten begann der Horizont gelb zu erglühen; bald würde die Sonne aufgehen. Das Wasser um ihn herum war schwarz wie Eisen. Ein Stück seitlich von ihm, hundert Ellen entfernt, ragte ein gischtumrandeter Felsen aus den Fluten. Er sah mit traurigem Interesse zu ihm hinüber, aber der Wind, die Wellen und die Strömung trugen ihn fort von dem Felsen.
Ein tosendes Rauschen brandete in seine Ohren. Er spürte einen plötzlichen, heftigen Schlag, dann wurde er von einer Woge gepackt, emporgehoben und gegen etwas Hartes und Scharfes geschmettert. Mit tauben Armen und Händen versuchte er sich festzuklammern, aber die nächste Woge riß ihn mit sich fort.
10
Während der Regierungszeit Olams I., des GroßenKönigs der Älteren Inseln, und seiner direkten Nachfolger hatten der Thron Evandig und der heilige Tisch Cairbra an Meadhan ihren Platz in Haidion. Olam III., »der Eitle«, brachte Thron und Tisch nach Avallon. Dieser Akt und seine Folgen waren das indirekte Resultat eines Zwistes unter den Erzmagiern des Landes. Zu jener Zeit waren es acht an der Zahl: Murgen, Sartzanek, Desmëi, Myolander, Baibalides, Widdefut, Coddefut und Noumique. 14 Murgen wurde als der Erste unter ihnen angesehen, jedoch keinesfalls zur Zufriedenheit aller. So stieß sich besonders Sartzanek an Murgens nüchternem Starrsinn, während Desmëi die scharfe Kritik beklagte, mit der
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