Lyonesse 3 - Madouc
angekommen, hob er den Klopfer und ließ ihn fallen.
Nichts regte sich.
Shimrod klopfte ein zweites Mal, mit dem gleichen Ergebnis wie zuvor.
Die Villa, so schien es, war leer.
Shimrod wandte sich langsam von der Tür ab und ging zurück zur Pforte. Er blickte den Weg hinauf nach Norden. In nicht allzu weiter Distanz gewahrte er Melancthe, die sich ohne Hast näherte. Er empfand keine Überraschung; genau so war es in seinen Träumen gewesen.
Shimrod wartete. Melancthe kam näher: eine schlanke, dunkelhaarige Maid, die ein knielanges weißes Kleid und Sandalen trug. Mit einem kurzen, teilnahmslosen Blick auf Shimrod schritt sie durch das Tor; als sie an ihm vorüberging, roch Shimrod den feinen Duft von Veilchen, der sie stets begleitete.
Melancthe ging zur Tür. Shimrod folgte ihr ruhig und betrat hinter ihr die Villa. Sie ging durch die Halle und trat in ein langes Zimmer mit einem breiten Bogenfenster, das dem Meer zugewandt war. An dieses Fenster stellte sich Melancthe und starrte versonnen zum Horizont. Shimrod verharrte in der Tür und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Seit seinem letzten Besuch hatte sich wenig verändert. Die Wände waren weiß getüncht; auf dem Fliesenboden lagen drei Vorleger, in einem kühnen Muster aus Orange, Rot, Schwarz, Weiß und Grün auf isabellfarbigem Untergrund gewoben. Ein Tisch, einige schwere Stühle, ein Diwan und ein Seitentisch waren das einzige Mobiliar. Die Wände waren bar jeder Verzierung; nirgends im Raum waren Gegenstände, die etwas von Melancthes Persönlichkeit widergespiegelt hätten. Die Vorleger waren farbenfroh und lebendig und schienen Importe aus dem Atlasgebirge zu sein; höchstwahrscheinlich, vermutete Shimrod, hatte Lillas, die Dienstmagd, sie gekauft und ausgelegt, ohne daß Melancthe groß Notiz davon genommen hatte.
Schließlich wandte sich Melancthe zu Shimrod um und sah ihn mit einem merkwürdig verzerrten Lächeln an. »Sprecht, Shimrod! Warum seid Ihr hier?«
»Ihr erkennt mich trotz meiner Vermummung?«
Melancthe schien überrascht. »›Vermummung‹? Ich bemerke keine Vermummung. Ihr seid Shimrod – so sanft, schwärmerisch und unsicher wie eh und je.«
»Zweifellos«, sagte Shimrod. »Soviel also zu meiner Vermummung; ich kann meine Identität nicht verbergen. Habt Ihr Euch inzwischen für eine Identität für Melancthe entschieden?«
Melancthe machte eine ausholende Gebärde. »Solches Gerede ist fehl am Platze. Was wollt Ihr von mir? Ich bezweifle, daß Ihr gekommen seid, meinen Charakter zu analysieren.«
Shimrod deutete auf den Diwan. »Setzen wir uns; es ist langweilig, sich im Stehen zu unterhalten.«
Melancthe zuckte gleichgültig die Achseln und ließ sich auf den Diwan sinken; Shimrod setzte sich neben sie. »Ihr seid so schön wie immer.«
»Das höre ich gelegentlich.«
»Bei unserer letzten Begegnung hattet Ihr Geschmack an giftigen Blüten gewonnen. Habt Ihr diese Neigung noch immer?«
Melancthe schüttelte den Kopf. »Solche Blüten sind nicht mehr zu finden. Ich denke sehr oft an sie; sie waren auf wunderbare Weise anziehend, findet Ihr nicht auch?«
»Sie waren faszinierend, aber auch schlecht«, sagte Shimrod.
»Ich empfand sie nicht so. Die Farben waren von großer Mannigfaltigkeit, und die Düfte, die ihnen entströmten, waren ungewöhnlich.«
»Aber – das müßt Ihr mir glauben! – sie verkörperten die Aspekte des Bösen: die vielen Gerüche der Purulenz, wenn man so will.«
Melancthe lächelte und schüttelte den Kopf. »Ich kann diese langweiligen Abstraktionen nicht verstehen, und ich bezweifle, ob die Mühe, sie darzulegen, irgendwelchen Spaß zeitigen würde, da ich mich sehr leicht gelangweilt fühle.«
»Interessehalber gefragt: Kennt Ihr die Bedeutung des Wortes ›böse‹?«
»Es scheint das zu bedeuten, was man in es hineinlegt.«
»Das Wort ist unbestimmt. Wißt Ihr den Unterschied zwischen, sagen wir, Güte und Grausamkeit?«
»Ich habe noch nie daran gedacht, mir darüber Gedanken zu machen. Warum fragt Ihr?«
»Weil ich in der Tat gekommen bin, Euren Charakter zu studieren.«
»Schon wieder? Aus welchem Grunde?«
»Es drängt mich herauszufinden, ob Ihr ›gut‹ oder ›schlecht‹ seid.«
Melancthe zuckte die Achseln. »Das ist so, als ob ich Euch früge, ob Ihr ein Vogel oder ein Fisch seid – und darauf eine ernsthafte Antwort erwartete.«
Shimrod seufzte. »Ganz recht. Wie verläuft Euer Leben?«
»Ich ziehe es der Vergessenheit vor.«
»Womit beschäftigt
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