Lyonesse 3 - Madouc
Ihr Euch jeden einzelnen Tag?«
»Ich beobachte das Meer und den Himmel; manchmal wate ich in der Brandung und baue Straßen im Sand. Nachts betrachte ich die Sterne.«
»Ihr habt keine Freunde?«
»Nein.«
»Und was ist mit der Zukunft?«
»Die Zukunft endet beim Jetzt.«
»Was das betrifft, so bin ich nicht so sicher«, sagte Shimrod. »Es ist bestenfalls eine Halbwahrheit.«
»Und wenn? Eine halbe Wahrheit ist besser als gar keine; pflichtet Ihr mir da nicht bei?«
»Ganz und gar nicht«, sagte Shimrod. »Ich bin ein praktischer Mensch; ich versuche lieber, die Gestalt der ›Jetzts‹, die in naher Entfernung liegen, zu beeinflussen, statt mich ihnen zu unterwerfen, sowie sie sich ereignen.«
Melancthe zuckte erneut die Achseln zum Zeichen ihres Desinteresses. »Es steht Euch frei, zu tun, was Euch beliebt.« Sie ließ sich in die Kissen zurücksinken und wandte den Blick aufs Meer.
Schließlich brach Shimrod das Schweigen. »Wohlan denn: seid Ihr nun ›gut‹ oder ›schlecht‹?«
»Ich weiß es nicht.«
Shimrod wurde ärgerlich. »Mit Euch zu sprechen ist so, als besuchte man ein leeres Haus.«
Melancthe überlegte einen Moment, bevor sie antwortete. »Vielleicht«, sagte sie, »liegt es daran, daß Ihr das falsche Haus besucht. Vielleicht seid Ihr aber auch bloß der falsche Besucher.«
»Ha hah!« sagte Shimrod. »Offenbar seid Ihr doch fähig zu denken.«
»Ich denke fortwährend, Tag und Nacht.«
»Und was sind Eure Gedanken?«
»Ihr würdet sie nicht verstehen.«
»Bringen Euch Eure Gedanken Freude? Oder Frieden?«
»Wie immer stellt Ihr Fragen, die ich nicht beantworten kann.«
»Sie sind doch recht einfach, sollte man meinen.«
»Für Euch vielleicht. Was mich anbelangt, so wurde ich nackt und leer in die Welt gebracht; es wurde lediglich von mir verlangt, daß ich die Menschen imitiere, nicht aber, daß ich selbst menschlich werde. Ich weiß nicht, was für eine Art von Geschöpf ich bin. Das ist das Thema meiner Reflektionen. Sie sind kompliziert. Da ich keine menschlichen Gefühle kenne, habe ich ein völlig neues Kompendium von Emotionen erdacht, welche nur ich fühlen kann.«
»Das ist höchst interessant! Wann benutzt Ihr diese neuen Emotionen?«
»Ich benutze sie fortwährend. Manche sind schwer, andere sind leicht und nach Wolken benannt. Manche sind konstant; andere sind flüchtig. Bisweilen erregen sie mich, und ich möchte sie für immer behalten – so wie ich danach verlangte, die wundervollen Blumen zu behalten! Aber die Stimmungen entwischen, ehe ich sie benennen und in meinem Herzen festhalten kann. Manchmal – oft – kommen sie nie wieder zurück, wie sehr ich auch nach ihnen schmachte.«
»Wie nennt Ihr diese Gefühlsregungen? Sagt es mir!«
Melancthe schüttelte den Kopf. »Die Namen würden nichts besagen. Ich habe Insekten beobachtet und mich gefragt, wie sie ihre Gefühle heißen und ob sie vielleicht so wie die meinen sind.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Shimrod.
Melancthe ging auf diesen Einwand nicht ein. Sie fuhr fort: »Es ist möglich, daß ich anstelle von Emotionen bloß Wahrnehmungen empfinde und diese für erstere halte. So empfindet auch ein Insekt die Stimmungen seines Lebens.«
»Und habt Ihr in Eurem neuen Kompendium von Gefühlen auch Gegenstücke für ›gut‹ und ›schlecht‹?«
»Das sind keine Gefühle! Ihr versucht mich dazu zu überlisten, daß ich Eure Sprache spreche! Na schön; ich werde antworten. Ich weiß nicht, was ich von mir halten soll. Da ich kein Menschenwesen bin, frage ich mich, was ich bin und wie mein Leben verlaufen wird.«
Shimrod lehnte sich zurück und dachte nach. »Ihr dientet einmal Tamurello: warum tatet Ihr das?«
»Das war das Geheiß, welches in mein Hirn eingepflanzt war.«
»Jetzt ist er in eine Flasche eingepfercht, aber Ihr dient ihm immer noch.«
Melancthe sah Shimrod stirnrunzelnd an, den Mund mißbilligend geschürzt. »Warum sagt Ihr das?«
»Murgen hat mich unterrichtet.«
»Und was weiß er?«
»Genug, um ernste Fragen zu stellen. Wie gelangen diese Befehle zu Euch?«
»Ich erhalte keine genauen Ordern, nur Anwandlungen und Fingerzeige.«
»Wer gibt sie?«
»Manchmal glaube ich, sie kommen aus mir selbst heraus. Wenn diese Stimmungen über mich kommen, dann bin ich ausgelassen und voller Leben!«
»Jemand belohnt Euch für Euer Mitwirken. Ihr müßt auf der Hut sein! Tamurello sitzt in einer Glasflasche, mit der Nase zwischen den Knien. Wollt Ihr, daß Euch das gleiche
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