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Lyra: Roman

Lyra: Roman

Titel: Lyra: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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denken.
    Die Kindheit, die er so verdrängte.
    Seine Eltern, die ihn in die Fremde getrieben hatten.
    Die Lügen, die immer schon in den Wänden des riesigen Hauses gelebt hatten.
    All die Lügen, die so schnell lebendig werden konnten, wenn man ihnen nur arglos und andächtig lauschte. Er wusste, was man anrichten konnte, wenn man Lügen erzählte. Er wusste, wie gefährlich die erfundenen Geschichten sein konnten. Deswegen hatte er niemals von seiner Fähigkeit Gebrauch gemacht, und er gedachte auch nicht, es in Zukunft zu tun.
    Jetzt, da er selbst bald Vater wurde, erinnerte er sich öfter an all die Dinge, die er als Kind erlebt hatte. An die allererste Lüge, die er bewusst gehört hatte.
    Es gab sogar einen Song dazu: The Unlucky Birth of David McDonald. So hatte er die Melodie genannt, die schnell und irre daherkam, wenn man sie auf einer alten Fender Stratocaster spielte.
    Wenn er die Augen schloss und dem Wind lauschte, dann konnte er sie noch immer hören, diese Worte, die zu einer Geschichte wurden, an die er so ungern erinnert wurde wie an vieles andere auch.
    »Du warst schon immer ein schwieriges Kind«, hatte seine Mutter immer betont, wenn sie die Geschichte seiner Geburt erzählte. »Nicht wie dein Bruder. Du warst so eigensinnig, so rebellisch.« »Colin hat doch auch immer Schwierigkeiten gemacht«, verteidigte er sich zumeist.
    »Aber nicht wie du.« Sie hatte ihn eindringlich und abfällig gemustert. »Du warst rebellisch, ein Tunichtgut. Alle haben das gesagt.«
    »Alle?«
    Sie hatte genickt. »Die Leute.« Nachdenklich hatte sie an ihrem Tee genippt. »Vielleicht lag es nur daran, dass du eigentlich eine Deirdre hättest werden sollen.«
    Die beiden Jungs hatten dann immer mit den Augen gerollt. Colin und Danny kannten die Geschichten ihrer seltsamen Geburten fast auswendig.
    »In diesen Mauern«, pflegte Helen Darcy fast feierlich zu betonen, »bist du geboren worden. Nicht wie Colin seinerzeit. Mit ihm sind wir zu den Spezialisten nach Stranraer gefahren.«
    Im Grunde genommen war Dannys Geburt kaum anders verlaufen als die seines großen Bruders. Sah man davon ab, dass Helen Darcy mit allen Mitteln versucht hatte zu verhindern, dass die Geburt genauso verlaufen würde wie die ihres ersten Sohnes, der, nebenbei bemerkt, ebenfalls ein Mädchen hätte werden sollen.
    »Nie wieder betrete ich ein Krankenhaus«, hatte Helen Darcy gekeift. »Nicht nach der Sache mit Colin.«
    Archibald Darcy, ihr Mann, hatte nichts anderes tun können, als mit ihr einer Meinung zu sein.
    Also war Danny eine Hausgeburt geworden.
    Colin, der sich aufrichtig darauf freute, bald nicht mehr allein sein zu müssen, befahl man, in seinem Zimmer im zweiten Stock zu bleiben, während ein Stockwerk tiefer die Wehen einsetzten.
    Stunden harrte er dort aus, verließ den Raum nur, um auf die Toilette zu schleichen. Niemand kümmerte sich um ihn. Er sollte sich ruhig verhalten und einfach nichts tun. Und er sollte keine Musik hören. Das war überhaupt das Allerwichtigste. Auf keinen Fall durfte Musik erklingen.
    »Das war wirklich das Allcrallcrwichtigste«, schaltete sich Archibald Darcy hier stets in die Erzählung ein und nickte seinen Jungs bedeutungsschwer zu. »Musik war nicht gut.«
    »Warum?«, wollte Danny dann jedes Mal wissen.
    Doch Archibald Darcy schüttelte nur den Kopf.
    Helen Darcy jedenfalls lag in ihrem Bett im Schlafzimmer und schimpfte. Sie hatte Schmerzen und war wütend, weil sie nichts dagegen unternehmen konnte.
    »Seid ruhig!«, schrie sie andauernd. Wenn sich jemand regte, dann begann sie zu schreien.
    »Wir sind ruhig«, flüsterte ihr Mann, der an ihrer Seite stand.
    »Ja, seelenruhig«, beruhigte sie Dr. Horowitz, der anwesende Arzt, der seit dem Nachmittag in Ravenscraig ausharrte.
    »Noch leiser!«, zischte sie. »Leise, leise, leise, leise.« Nur ihr Keuchen lag wie schwerer Dampf in der Stille.
    »Als Colin zur Welt kam, hast du die Carpenters gehört«, flüsterte Archibald Darcy ihr zärtlich zu. »Ich könnte doch vielleicht... nur ganz kurz...«
    »Nein!« Ihre Stimme überschlug sich. Panisch, grell, laut. »Nein, nein, nein.«
    »Aber vielleicht würde es Sie beruhigen«, schaltete sich Dr. Horowitz ein und schenkte ihr ein wohlmeinendes Lächeln.
    Helen Darcy ergriff das Handgelenk des Doktors. Mit aller Kraft, die sie noch aulbieten konnte, richtete sie sich auf und spie ihm ins Gesicht: »Unterstehen Sie sich, Musik in diesem Haus zu machen.«
    Dr. Horowitz zuckte die Achseln. Das

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