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Lyra: Roman

Lyra: Roman

Titel: Lyra: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Lächeln verschwand.
    Archibald Darcy schaute betreten in die Runde.
    »Musik lockt sie nur an.« Helen Darcys Stimme war ein Wispern, verschwörerisch und nervös.
    Ihr Mann fand diese Bemerkung nicht sonderbar.
    Dr. Horowitz schon. »Wen lockt die Musik an?«, fragte er neugierig.
    »Psst, Sie dürfen ihre Namen nicht nennen. Sonst kommen sie.«
    Der Doktor und der Ehemann tauschten Blicke.
    »Ich verstehe nicht ganz«, ineinte Dr. Horowitz.
    Und Helen Darcy zischte ihn an: »Sie haben natürlich keine Ahnung!« Unruhig ließ sie ihren Blick durch den Raum schweifen. »Sie sind überall und warten nur darauf, dass es endlich passiert.«
    Dann begann sie zu zählen. In den Pausen, in denen sie atmen konnte.
    Die Wehen wurden stärker und stärker. Fluchend krümmte sich Helen Darcy bei jeder neuen Kontraktion.
    Dr. Horowitz kramte emsig in seiner Arzttasche und beförderte ein Etui mit einer Vielzahl säuberlich beschrifteter kleiner Flakons hervor, die er ordentlich auf dem Beistelltisch neben dem Bett aufreihte.
    »Bachblütenextrakte«, kommentierte er sein Tun.
    Helen Darcy starrte ihn an, als habe er den Verstand verloren.
    Dann zog er eine Art Kartenspiel aus der Tasche und begann die Karten zu mischen. Mit seinem Kinnbärtchen und dem schütteren Haar sah er aus wie eine moderne Inkarnation von Catweazle.
    »Was tun Sie da?«, fragte Archibald Darcy.
    Helen Darcy war zu verwirrt, um zu schimpfen. Sie starrte den Doktor nur an und schwieg.
    Der Doktor hielt schließlich inne, fächerte die Karten auf und hielt sie ihr hin, mit der Aufforderung: »Ziehen Sie eine.«
    Helen fauchte ihn an. »Sind Sie verrückt?« Eine erneute Kontraktion ließ sie verstummen.
    Der Doktor schüttelte ruhig den Kopf. »Ziehen Sie eine Karte.«
    »Behandeln Sie mich nicht, als sei ich gestört.«
    Er fuchtelte mit den aufgefächerten Karten vor ihrem Gesicht herum. »Ziehen Sie eine Karte, na los.«
    Helen verdrehte die Augen.
    »Nun mach doch schon«, meinte jetzt auch ihr Mann.
    »Idiot«, fauchte sie ihn an. Dennoch zog sie eine Karte. Bevor sie sehen konnte, was die Karte zeigte, riss der Doktor sie ihr bereits aus der Hand. »Das ist Heidekraut«, erklärte er ihr. »Passt zu Ihnen.«
    »Was soll das denn heißen?«
    Er suchte auf den Etiketten herum, ergriff einen der Flakons, legte ihn zur Seite. Dann wandte er sich erneut seiner Patientin zu. Statt ihre Frage zu beantworten, mischte er die Karten weiter und forderte sie auf: »Ziehen Sie noch eine.«
    Helen Darcy krümmte sich vor Schmerzen, stöhnte auf und nahm widerwillig die nächste Karte.
    »Springkraut«, kommentierte der Doktor, zog den passenden Flakon hervor und legte ihn zu dem anderen.
    »Was bezwecken Sie damit?«, wollte jetzt Archibald Darcy wissen.
    Seine Frau litt unter der nächsten Wehe.
    »Vertrauen Sie mir«, meinte Dr. Horowitz nur. Und wieder mischte er die Karten, und wieder musste Helen Darcy eine ziehen. »Wegwarte«, sagte er, »die Pflanze der werdenden Mütter.«
    Beide starrten ihn an.
    Unbeirrt von diesen Blicken mischte der Doktor die Inhalte der drei Flakons in einem vierten, schüttelte diesen genüsslich durch und reichte ihn Helen Darcy mit den salbungsvollen Worten: »Trinken Sie!«
    Helen Darcy funkelte ihn wütend an, setzte den Flakon an die Lippen und trank.
    »Gut so?«
    Die nächste Kontraktion ließ sie aufschreien.
    »Sie fühlen sich jetzt viel besser, habe ich Recht?« Dr. Horowitz nickte ihr aufmunternd zu.
    Helen Darcy konnte nur keuchen. Die einzigen Worte, die ihr noch über die Lippen kamen, waren: »Es ist so weit.«
    Archibald Darcy trat vom Bett zurück. Und Dr. Horowitz krempelte sich die Ärmel hoch.
    Es ging also los.
    Und während Helen Darcy auf die Geburt ihrer Tochter wartete, stahl sich, ein Stockwerk höher, der kleine Colin aus dem Zimmer, in das man ihn verbannt hatte. Er hörte die Schreie seiner Mutter seit Stunden, und er sah nur eine einzige Möglichkeit, dieses Gekreische zu übertönen. Flink wie eine Maus in der Nacht lief er nach unten in den Salon, wo sich eine Stereoanlage befand. Den Regler für die Lautstärke drehte er so weit auf, wie es nur ging. Dann legte er die Schallplatte auf, die ihm passend erschien.
    Und während die Wehen schneller und schneller kamen, ertönte eine tiefe Stimme, die eindringlich wie eine fremde Beschwörungsformel durch die Gärige des großen Hauses schwebte und vor keinem Zimmer in Ravenscraig haltmachte. Sie war wie die Flut in der Nacht, strömte die Korridore

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