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Lyra: Roman

Lyra: Roman

Titel: Lyra: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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angeblich irgendwo in der Dunkelheit aullauern. Ist das nicht eine Ironie des Schicksals?«
    Danny hatte es nie so gesehen.
    Er fragte: »Was ist mit den Sirenen? Sind sie gefährlich oder nicht?«
    Blake schnalzte mit der Zunge, seine Finger trommelten einen Rhythmus auf das Geländer.
    »Deine Mutter, Junge, ist eine Sherazade - schöner alter Begriff für das, was wir sind.« Er blickte in die Ferne. »Ich bin auch eine Sherazade.« Er betrachtete Danny »Und du, Junge, bist auch eine.« Er ging auf zwei Schaukelstühle zu, ließ sich in einen hineinfallen. »Mach's dir bequem«, forderte er Danny auf. »Weißt du, es gibt keine männliche Bezeichnung für Sherazade. Für das, was wir beide sind.«
    »Wissen Sie, warum?«
    Er nickte. »Meine Mutter hatte nur Söhne«, sagte er.
    Danny fragte sich, worauf er hinauswollte. »Lebt sie noch?«
    »Ja, aber ich habe keinen Kontakt mehr zu ihr.«
    Danny fragte nicht, warum dies so war.
    »Sie wollte immer nur eine Tochter haben«, erinnerte sich Blake. »Ja, das war für sie überhaupt das Allerwichtigste im Leben. Ich habe noch ein paar Brüder, musst du wissen. Naja, Halbbrüder, um genau zu sein. Meine Mutter hat in ihrem Leben viele Männer gehabt, aber keiner von ihnen schaffte es, ihr eine Tochter zu schenken.«
    Danny dachte an seine Mutter.
    »Meine Mutter, Roberta Kassandra«, sagte Blake, »war eine Sherazade. Sie wuchs tief im Süden auf, in einem Ort namens Hazelhurst. Sie musste ihre Familie verlassen, als sie zehn Jahre alt war, ist einfach davongelaufen.« Seine Stimme wurde zu einem Song, der seinen Rhythmus sucht und mit jedem Wort, das die Lippen verlässt, mehr und mehr findet. »Sie hat es mir niemals richtig erklärt. Nur eines hat sie immer wieder gesagt: Mammadee hat mich fortgeschickt .« Die Melodie der Worte stockte. »Mammadee, das war meine Großmutter. Ihren Namen habe ich nie erfahren. Sie hat sie immer nur Mammadee genannt. Sie war dumm, hat meine Mutter immer gesagt, und zugleich war es gut so, denn sonst würde ich nicht mehr leben. Sonst hätte ich auch nie zu mir selbst gefunden, nicht so.«
    Danny hörte nur zu, Lauschte dem Song, der gerade mit Worten für ihn gespielt wurde.
    »Ich weiß, das ergibt nicht unbedingt einen Sinn, ist aber so. Genau so hat sie es mir immer erzählt. Mammadee war blutjung, als ihr Bauch dick wurde.«
    Sie arbeitete auf einer Plantage, irgendwo im Süden. Es war ein hartes, aber ein gutes Leben. Dann, als Roberta Kassandra ungefähr zehn Jahre alt war, nahm Mammadee sie beiseite und schickte sie fort. Pack deine Sachen und verschwinde, trug sie ihr auf, und kehre nie mehr zurück. Du verstehst jetzt nicht, warum du es tun musst, aber eines Tages, meine Kleine, wirst du es vielleicht verstehen. Die kleine Roberta Kassandra weinte, weil sie nicht begriff, warum ihre Mutter so mit ihr sprach. Mammadee packte das Kind und flüsterte: Es ist ein Fluch.
    »Ein Fluch?«
    Blake zuckte die Achseln. »Ja, ein Fluch. Das waren ihre Worte.«
    »Wissen Sie, was sie damit gemeint hat?«
    Er lachte. »Ich habe mir lange den Kopf darüber zerbrochen. Keine Ahnung. Roberta Kassandra war jedenfalls eine Sherazade. Sie fuhr als blinder Passagier auf einem Raddampfer, wanderte allein über das Land, und schließlich wurde sie schlafend in einer Scheune von Farmern gefunden. Sie wuchs in Tennessee auf, bei einer neuen Familie, die sich ihrer annahm, ging Jahre später, als die Große Depression Amerika in ihren Klauen hielt, nach Chicago, wo sie in den Clubs auftrat. Sie hatte viele Männer in ihrem Leben, Manchmal sagte sie später, sie sei ein leichtes Mädchen gewesen, aber ich glaube, dass da mehr dahintergesteckt hat. Sie wollte eine Tochter, ja, genau das war ihr Antrieb.«
    »Und sie bekam nur Söhne.«
    Blake nickte. »Fünf meiner Halbbrüder leben noch, zwei sind bereits vor Jahren gestorben.«
    Danny starrte ihn an.
    »Waren sie alle...?«
    »Ja, sie konnten es alle tun.«
    Danny dachte an die Tochter, der Sunny bald das Leben schenken würde.
    »Vielleicht hat es ja einen Grund, weshalb es keinen Namen für uns Männer gibt«, sinnierte Blake. »Nur Sherazade für die Frauen, aber kein eigenes Wort für die Männer.«
    »Meinen Sie, dass Sherazaden sonst nur Frauen waren?«
    »Wäre doch möglich.«
    »Und?«
    Er zucktc die Achscln. »Keine Ahnung. Vicllcicht wollen sie deswegen nur Töchter und keine Söhne.« Er seufzte mit dem Wind. »Am Ende jedenfalls wissen wir es nicht. Aber wie für alles im Leben wird es

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