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Lyra: Roman

Lyra: Roman

Titel: Lyra: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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passiert allen Geschichten mit der Zeit.«
    Danny schluckte. »Sie waren einmal lebendig?«
    Sunnys Hand suchte die seine. Er konnte ihr ansehen, dass sie sich nicht wohlfühlte.
    »Sic waren so lebendig wie jede Gcschichte, die jemals erzählt wurde.« »Und jetzt?«
    »Sie irren umher und vergehen.« Madame Fontaine beschleunigte das Boot wieder. »Willkommen in der Welt der Sirenen«, säuselte sie, und die Melodie ihrer Stimme, zart und fein, war grauenhaft anzuhören, als sie so sprach. »Sie haben das Land der Geschichten und Lügen betreten, das tun nicht viele aus freien Stücken.«

Das Entsetzen in Sunnys Augen griff auf Danny über. Zum ersten Mal war die Fassungslosigkeit spürbar, weil die Fremdheit all dieser Dinge sie beide ansprang wie ein Tier, das still in der Dämmerung auf der Lauer gelegen hatte.
    Vor ihnen tauchte ein Vorhang aus Spanischem Moos auf. Das Boot raste hindurch, und das Moos streifte ihre Gesichter.
    »Es fühlt sich an wie Spinnweben, nur grober«, stammelte Sunny und wischte es schnell fort.
    »Man sagt, es fängt die Träume derer ein, die es berührt.«
    Sunny fröstelte.
    »Southern Gothic«, sagte Danny. Er dachte an gefangene Träume, die zu Geschichten wurden und so endeten wie die Wesen auf den Inseln.
    »Es gab einmal einen spanischen Eroberer«, begann Madame Fontaine, »und dieser Eroberer verliebte sich in ein indianisches Mädchen. Er kaufte sie ihrem Vater ab, doch das Mädchen, das eine Schönheit war, konnte ihn nicht leiden. Er war ein alter Soldat, der nur gelernt hatte, sich zu nehmen, was er haben wollte. Als er sie mit sich nahm und Zärtlichkeiten von ihr verlangte, da flüchtete sie vor dem Konquistador auf einen Baum, eine Eiche, doch ihr Verehrer folgte ihr unverdrossen.« Madame Fontaine liebte es offenbar, Geschichten zu erzählen. Ihre Stimme war wie Musik, auf die man gern hört. »Von oben ließ sie sich in einen Teich fallen, dessen Wasser so klar wie Kristall waren. Als der Spanier ebenfalls vom Baum ins Wasser springen wollte, verfing sich sein dichter Bart im Baum und blieb an den Ästen hängen.« Sie zwinkerte Danny neckisch zu. »Spanisches Moos, daher der Name.«
    Sunny, die langsam ihre Stimme wiederfand, bemerkte nur lapidar: »Immerhin scheint diese Welt hier von Frauen regiert zu werden.«
    »Nicht nur diese Welt, Schätzchen.« Madame Fontaine lachte leise in sich hinein. »Nein, nicht nur diese Welt.«
    Das Boot scheuchte eine Reihe von Vögeln auf, die kreischend in die Wipfel der Zypressen flohen. Andere, Papageien ähnlich, glitten mit bunten Bändern in den Schnäbeln durch die Schatten und das Licht, das durch die Blätter fiel.
    Come tie a yellow ribbon.
    Diese schäbige kleine Melodie.
    Round the old oak tree.
    Danny mochte den Song nicht. Zu viele Erinnerungen verband er damit.
    Im trüben Wasser tummelten sich Tiere, die so fremdartig waren wie nichts, was sie jemals erblickt hatten. Sie fielen übereinander her, jagten einander, fauchten, töteten, paarten sich. Die schwüle Hitze gebar Bilder, die hell und dunkel zugleich waren, sie verzerrte die Konturen von allem, was wirklich war. Der Sumpf bestand nicht nur aus Morast und brackigem Wasser, sondern zugleich aus unzähligen Geschichten, die alle einmal von geschwätzigen Mündern geboren und eingefangen worden waren.
    Sunnys Hand erbebte in Dannys.
    Plötzlich waren sie da.
    Hinter einer Flussbiegung sahen sie es.
    »Mein Zuhause«, stellte Madame Fontaine vor und drosselte den Motor. »Es ist wunderschön, nicht wahr?!«
    Danny schluckte. Sein erster Gedanke galt großen Häusern.
    Wäre Ravenscraig ein Anwesen in den Sümpfen gewesen, dann hätte es wohl genau so ausgesehen. Für einen kurzen Augenblick hatte er sogar das Gefühl, in die Fenster seines Elternhauses zu blicken. Als würde das düstere Ravenscraig über diesem Haus hier schimmern, wie ein Echo, das noch nicht gänzlich verklungen war.
    La Maison Rouge.
    Knorrige Eichenriesen streckten ihre dicken Äste nach ihm aus. Roter Efeu und Spanisches Moos rankten sich an seinen Wänden entlang. Die zweistöckige Veranda und das rote Dach im Stil eines tropischen Plantagcnhauses wurden von prächtigen dorischen Säulen getragen. Eine ebenerdige Galerie wies eigenartige schmiedeeiserne Verzierungen auf, in die Geheimnis um Geheimnis verwoben schien.
    Dann fiel Danny die Stille auf.
    Wenn die leiseste Stille eine schweigsame Heimat hatte, dann war sie hier, an diesem Ort, in die Ewigkeit der Bäume gemeißelt.
    »Haben

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