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Lyra: Roman

Lyra: Roman

Titel: Lyra: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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FievreDream. Er fuhr mit dem Ding den Mississippi und den Atchafalaya River rauf und runter. Doch Flüsse, Schätzchen, sind tückisch und gefährlich.« Sie gab Gas und beschleunigte. »Eines Tages lief er auf Grund und verlor alles, was er besessen hatte.« Sie verzog das Gesicht. »Er kassierte die Versicherungssumme ein, trieb sich ein wenig herum, heiratete und kaufte ein Haus in den Sümpfen. Er hatte immer die Tendenz, seine Töchter vor der unwirtlichen Welt schützen zu wollen.« Sie zwinkerte Danny zu. »Ja, ja, Väter.« Sie warf ihm einen wirklich vielsagenden Blick zu.
    Ein seltsam bunter Vogel folgte ihnen, beschrieb einen Kreis um das Boot und verschwand dann in den Wipfeln. Er kam Danny bekannt vor, als habe er ihn zuvor schon einmal gesehen.
    Dann fuhr Madame Fontaine fort: »Wir wuchsen in der Abgeschiedenheit des Bayous auf, meine Schwestern und ich. Aber was sage ich Ihnen, Sie werden die andere gleich kennenlernen. Es war eine schöne Kindheit. So ruhig.« »Sind Sie eine Sirene?«
    Madame Fontaine sah ihn belustigt an. Musik funkelte ihr in den Augen, die grün waren wie ein Smaragd. »Ja, Schätzchen, das bin ich. Und meine Schwestern sind es auch.«
    »Wir haben ein Problem.«
    »Das sagte Ihre Frau bereits vorhin.« Sie musterte ihn neugierig. »Wir haben Zeit. Möchten Sie mir Ihre Geschichtc erzählen?«
    Danny nickte.
    Während sie durch Flussarme fuhren und immer tiefer ins Yoknapatawpha-Gebiet vordrangen, erzählte er ihr von Helen Darcy und dem Anruf und dem Kind und allem anderen auch.
    Sie lauschte, ohne mit der Wimper zu zucken.
    »Sie haben die richtige Wahl getroffen«, beruhigte sie ihn, als er fertig war.
    »Das heißt, Sie werden uns helfen?«, fragte Sunny hoffnungsvoll.
    Madame Fontaine schüttelte leicht den Kopf. »Das heißt, Schätzchen, dass ich Ihnen helfen werde«, sie schaute sie an, smaragdgrün und undurchsichtig, »wenn Sie bereit sind, den Preis zu zahlen, den wir verlangen.«
    »Und wie hoch ist der Preis?«
    Sie lachte schallend. »Es geht hier nicht um Geld.«
    Danny schaltete sich ein. »Was immer Sie wollen...«
    »Vorsicht, Vorsicht«, warnte sie ihn mit erhobenem Zeigefinger. »Sie sollten nicht leichten Herzens ein Versprechen abgeben. Hören Sie sich erst an, was wir verlangen, und entscheiden Sie dann, ob Sie bereit sind, den Preis zu zahlen.«
    »Was muss ich tun?«, fragte er.
    Madame Fontaine lächelte ein Lächeln, das wie schöner Gesang war. »Sie müssen uns etwas besorgen«, sagte sie. »Etwas, was wir uns nicht selbst besorgen können.« Listiges Grün flammte in ihrem Blick auf. »Etwas, was uns sehr wichtig ist, meinen Schwestern und mir.«
    »Was ist es?«
    »Geduld«, forderte sie, »Geduld, bald werden Sie es erfahren.«
    Sie fuhren weiter.
    Auf den Inseln, die sie passierten, erkannten sie seltsame Wesen. Menschen ähnlich, aber grausam verzerrt. Sie hausten in kleinen Hütten, die zerfallen und modrig waren und von Pflanzen überwuchert. Einige dieser Kreaturen, die gebeugt gingen und kränklich aussahen, hockten still um ein Feuer und brieten insektenartige Tiere.
    »Was, in aller Welt«, keuchte Sunny, »ist denn das?«
    Ein Mann stand am Ufer und winkte ihnen zu. Er rief Worte, die keiner von ihnen verstehen konnte, weil sie nicht mehr als ein Gewusel winziger Spinnenleiber waren. Die Zunge des Mannes, die von den Leibern bedeckt war, schien wie Papier zerknittert. Speichel troff ihm tintenartig über die aufgeschürften Lippen.
    »Baumwollspinnen«, erklärte Madame Fontaine. Sie lenkte das Boot vom Ufer fort. »Sie lesen das Letzte aus den Geschichten heraus, wenn sie sonst keiner mehr hören will. Wirklich arme Leute, sie können nicht mehr fort, weil sie vergessen haben, wer sie sind.«
    Danny schluckte.
    Der alte Mann weinte, doch die Tränen sahen aus wie Pflanzensaft. Er öffnete den Mund, und immer neue Spinnen krochen hinein und heraus. Ein Wesen, das einmal ein Hund gewesen sein mochte und jetzt wie welkes Papier aussah, winselte laut. Verstümmelte Tiere labten sich wild an einem toten Alligator.
    »Das sind die Lieder und Geschichten, die man vergessen hat«, sagte Madame Fontaine. »Wir haben sie einst gesungen und ihnen die Freiheit geschenkt. Sie haben die Zimmer des Maison Rouge verlassen, um hier draußen zu leben. Doch mit der Zeit ist natürlich alles anders gekommen.« Sie seufzte. »All die Jahre über haben sie hier gelebt, aber irgendwann veränderten sie sich.« Es wehte ein kalter Hauch in ihrer Stimme. »Das

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