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Lyra: Roman

Lyra: Roman

Titel: Lyra: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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die unheimlichen Geschichten, die er als Kind gehört hatte.
    Sie handelten von Menschen, die in eine andere Welt hineingezogen wurden. Sie erlebten dort Abenteuer, eines nach dem anderen, wurden zu Helden, lebten glorreich. Doch wenn sie nach Hause zurückkehrten, waren sie Fremde. Denn die Zeit, das fanden sie heraus, war nicht ihr Freund gewesen. Nein, niemals.
    Die Zeit hatte sie betrogen.
    Die Kinder, die sie zu Hause zurückgelassen hatten, waren alt und grau geworden. Die Freunde, die sie einst gehabt hatten, waren gestorben. Jeder Tag, den sie in der fremden Welt verbracht hatten, war in vielen Monaten gemessen worden. Das Leben, das sie zurückgelassen hatten, bestand bei ihrer Rückkehr nur noch aus Grabsteinen, in die Erinnerungen gemeißelt waren.
    Ja, das war es.
    Danny fürchtete sich. Er hatte Angst, dass ihm genau das widerfahren würde.
    Er musste die Lyra finden und zurückkehren. So schnell es nur möglich war.
    Und was wäre, wenn er hier sterben würde? Wenn er den Weg zurück nicht mehr finden würde?
    Er wusste es nicht.
    Nein, eigentlich wusste er gar nichts. Das, was er wusste, begann er zu vergessen. Denn die Welt, durch die er wandelte, war zu gefährlich, um sich an Nichtiges zu erinnern.
    Manchmal traf er auf Wanderer, die ihn im Schlaf zu überraschen trachteten. Das waren die Momente, in denen seine Hände die Dinge schnell taten, für die sie gemacht waren.
    Schüsse zerrissen dann die Nacht.
    Wenn es vorbei war, ritt er weiter, trotz der Dunkelheit.
    Der Geruch von Pulver und Blut im Staub war ihm zuwider.
    Doch meistens passierte gar nichts. Meistens blieb er allein.
    Sein Blick wanderte in die Ferne, humorlos und klar.
    Was er nicht sah, konnte ihn töten.
    Also schaute er genau hin.
    Die Prärie war voller Trugbilder. Die Tiere waren hungrig wie er selbst, und es gab seltsame Exemplare.
    Riesige Büffel, deren Atem Feuer war, Kojoten, die zu sprechen vermochten, und Klapperschlangen, die einen mit ihrem Rasseln lähmten, sobald man es vernahm.
    Einmal hatte er eine Frau getroffen, die wie ein Vogel gekleidet gewesen war.
    Du wirst mich wiedersehen, hatte sie gesagt.
    Warum?
    Ich bin da, wo die Suche endet, hatte sie ihm geantwortet. Das verstehe ich nicht.
    Man muss nicht immer alles verstehen. Ihre Stimme war rau und wie ein Krächzen gewesen. Er hatte ihr eine Frage gestellt. Wer bist du? Die, nach der du suchst. Das war ihre Antwort gewesen. Er hatte erwidert: Ich suche dich nicht.
    Sie hatte genickt, wie ein Vogel, der nach Futter pickt. Nichts ist, wie es scheint.
    Dann hatte sie die Flügel ausgebreitet und war entschwunden, wie Dinge im Traum entschwinden, auch wenn man die Hände danach ausstreckt.
    Und er?
    War weitergewandert.
    All die Tage und Nächte flüsterten die gleichen Versprechen, faulig wie das Wasser in den Ebenen. Lyra.
    Das war es, was sie ihm in all den Jahren wisperten.
    Er fragte die Wanderer, die ihm begegneten, nach der Lyra. Sie hörten sich seine Geschichte an, schüttelten traurig die Köpfe, wiesen ihn westwärts, ostwärts, nordwärts, südwärts. Die Richtung war egal, nur die Suche zählte.
    Dann kam er nach Riddle.
    Etwas in ihm, das wie ein Kompass war, hatte ihn dorthin gezogen, als hätte er ein Leben lang nach dieser Stadt gesucht.
    Nun war er da.
    Der Name kam ihm bekannt vor, und als er überlegte, woher er ihn kannte, da wurde ihm bewusst, wie viel er vergessen hatte. Er dachte an Alice und das Wunderland, an die seltsamen Dinge, die sie dort sah.
    Trink mich, iss mich, füttere mich.
    Er schloss die Augen, die sandig und trocken waren, Riddle.
    Oh, dieser Name.
    Wir haben uns in Riddle getroffen, das waren die Worte gewesen, doch wer hatte sie ausgesprochen?
    Riddle.
    Es war ein kleines Kai'f, schmutzig und verwahrlost. Die Menschen in den Straßen starrten ihn an, weil er ein Fremder ohne Namen war. Es war nicht gut, wenn ein Fremder ohne Namen die Stadt betrat, jeder wusste das. Auch der Fremde ohne Namen wusste das, und deshalb ritt er langsam die Straße entlang. Jeder sollte ihn sehen, jeder sollte ihn begutachten. Sie sollten sehen, dass er nichts zu verbergen hatte. Die Revolver trug er so offen wie eine Warnung. Er lenkte das lahmende Pferd und den halbblinden Maulesel dorthin, wohin es Fremde in jeder Stadt verschlägt.
    Im Saloon wurde es still, als er eintrat. Der Klavierspieler verstummte, die Zeit hielt den Atem an. Er lehnte sich gegen den Tresen und bestellte ein Bier. Das Glas, das man ihm hinstellte, war nicht sehr

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