Lyra: Roman
kann man etwas lernen.«
»Okay.«
»Meine Tochter«, fuhr Calypso fort, »ich habe ihr einen schönen Namen gegeben. Epiphany, so heißt sie. Ihr Vater war ein einfacher Mann, der in den Sümpfen lebte.« Sie lächelte, doch jetzt war das Dunkel in ihren Augen ein Abgrund. »Ich habe ihn verführt, wie ich es mit jedem tun kann.«
Danny schluckte.
»Er war mit dem Boot im Bayou unterwegs, als er mir begegnete.« Sie umfasste das Geländer und sah in die Tiefe. »Er ist mit in meine Hütte gekommen, und dort habe ich ihn zwischen den Schenkeln gespürt. Ja, er war so warm in mir, o ja, und die Wärme ist zu einem Kind herangewachsen.« Ihre Augen glänzten feucht, als sie das sagte. »Ich habe sie hier zur Welt gebracht, auf diesem Schiff.« Sie seufzte. »Dann, als ich wieder bei Kräften war, bin ich nach New Orleans gefahren. Dort gibt es ein Waisenhaus.« Sie schaute auf, betrachtete Danny. »Ich habe meine kleine Epiphany dort auf die Stufen gelegt, eingewickelt in weiße Laken. Können Sie sich vorstellen, was das für eine Mutter bedeutet?«
»Warum haben Sie das getan?«
Ihre nackten Schultern glänzten im Licht des Mondes. »Ich bin böse«, antwortete sie. »Ja, das bin ich.« Sie spielte mit ihrem Haar, das strähnig und fest war. »Ich habe sie fortgegeben, weil ich ihr Böses angetan hätte.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Es ist meine Art.« Sie schritt das Deck entlang. »Unsere Art. Die Art der Sirenen.«
Danny verstand gar nichts mehr.
»Epiphany ist eine Sherazade.« Splitter steckten ihr in der Stimme. »Sie hätte irgendwann selbst ein Kind bekommen, und wenn dieses Kind ein Mädchen gewesen wäre, dann hätte sie ihren Zweck erfüllt.«
Ein ungutes Gefühl bemächtigte sich Dannys. Er erkannte Geschichten, die kein gutes Ende nahmen, sofort.
»Was meinen Sie?«
»Wenn wir alt werden«, offenbarte sie ihm, »dann müssen wir nicht sterben. Nicht so, wie die Menschen es tun. Wir suchen uns einen neuen Körper.« Es schien ihr schwerzufallen, darüber zu reden. »Eigentlich ist es recht unkompliziert. Man streift den alten Körper ab, wenn er welk wird und stirbt. Wie ein altes Kleidungsstück.«
»Und der neue Körper?«
»Wir müssen den Wechsel herbeiführen. Deswegen bekommen wir die Kinder.« Sie starrte in den Mond. »Hätte Epiphany einer Tochter das Leben geschenkt, dann wäre die Kleine mein neuer Korper geworden.« Ihre Hände strichen über ihre Hüften. »Dies alles hier«, sagte sie, »war einmal der Körper eines kleinen Mädchens. Eines Mädchens, das eine andere Frau geboren hat.« Ihre Hände waren unruhig, rastlos. »Damals, vor langer Zeit, tat ich, was wir immer tun, wenn wir uns erneuern. Es ist immer wieder dieselbe Geschichte. Wir verführen einen jungen Mann, der uns seinen Samen schenkt. Wir bekommen ein Kind, das wir heranwachsen lassen. Und wenn dieses Kind erwachsen ist und seinerseits ein Kind bekommt, dann ist die Zeit des Übergangs gekommen.«
»Sie vergreifen sich an Ihren Enkelkindern?«
»Es muss natürlich ein Mädchen sein. Das ist Tradition.«
»Tradition«, spie er hervor.
»Verurteile nicht, was du nicht kennst«, fauchte sie ihn an. »Es tut weh, so zu sein.« Die Besorgnis verschwand, und ihr Gesicht verwandelte sich in ein scharfzüngiges Wesen. »Deshalb haben wir noch eine Möglichkeit, wie wir es tun können.« Sie berührte Dannys Unterarm. »Wir nehmen das Kind eines Fremden. Das ist einfacher. Keine Familienbande, nichts.« Belehrend hob sie den Finger. »Aber«, betonte sie, »es muss ein Kind sein, durch dessen Adern unser Blut fließt.«
Danny starrte sie an wie gelähmt. Er fragte sich, worauf sie hinauswollte.
»Sherazaden«, sagte sie, »stammen von uns ab.«
»Ich weiß.«
Sie schaute auf. »Gut, gut.«
»Und?«
»Wenn das Kind einer Sherazade ein Mädchen ist, dann können wir uns seinen Körper nehmen.« Sie zwinkerte ihm zu. »Wer will denn schon als ein Mann wiedergeboren werden?!« Langsam sah sie an ihm herab. »Wo es als Frau doch so viel schöner ist.«
»Ich fürchte, ich verstehe noch immer nicht ganz.«
»Nein?« Sie kam auf ihn zu. »Nein, tust du das nicht, Danny Darcy?«
»Was hat das mit mir zu tun?«
»Sei ehrlich, du ahnst es doch. Ich sehe es dir an.« Sie zeigte mit dem Finger in sein Auge hinein: »Da!«
Er ging zum Geländer, trat dagegen.
»Du hast meine Schwestern kennengelernt. Cal ist die Ältere.« Sie warf ihm einen Blick zu, der für Geheimnisse gemacht war. »Man sollte mit der
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