Lyra: Roman
als der Schatten über ihm kreiste. Nach all den Jahren, die ihn diese Suche gekostet hatte, kehrten die Erinnerungen zurück.
Das Kreischen!
Direkt über ihm!
Was, in aller Welt, war das für ein Wesen? Er dachte an die Abenteuergeschichten, die er als Kind verschlungen hatte. An Sindbad, den Seefahrer. Die Geschichte mit dem riesigen Vogel.
Vogel Roch.
Ja, so hieß er.
Furchtsam drehte Danny den Kopf.
Die Bäume rauschten, als sei ein Sturm im Anmarsch. Aber Danny wusste es besser. Es war das Schlagen von Flügeln, das sie sich so bewegen ließ.
Verzweifelt versuchte Danny, Schutz zu linden.
Lyra.
Ja, er war auf der Suche nach der Lyra gewesen. Deswegen war er all die Jahre umhergeirrt. Tränen traten ihm in die Augen. Er hatte versagt. Verdammt, alles war umsonst gewesen. Er schnappte nach Luft. Hustete.
Und dann geschah es.
Der riesige Vogel brach durch das Blätterdach. Sein spitzer Schnabel leuchtete wie das Licht der Sterne. Das Gefieder war bunt wie alle Farben dieser Welt. Eine rote Zunge glänzte, wenn er den Schnabel öffnete. Lange Beine mit Krallen daran zerfetzten selbst die dicksten Äste der Eichen. Unaufhaltsam bahnte sich das Tier seinen Weg in die Danny hörte die lauten Geräusche im Dickicht. Alles, was dort lebte, war auf der Flucht.
Dann hatte der riesige Vogel Roch es geschafft und landete mit beiden Beinen im Morast. Abwartend stand er da, sein Blick aus den güldenen Augen aufmerksam. Er stieß noch einen gellenden Schrei aus, und schon schnellte sein Schnabel auf Danny zu.
Dannys letzter Gedanke galt Sunny.
Oh, seiner geliebten Sunny, die er nie mehr wiedersehen würde.
Da ergriff eine Hand die seine. Sie schoss aus dem brackigen Wasser empor und packte ihn.
Bevor Danny wusste, wie ihm geschah, wurde er in die Tiefe des Sumpfs gezogen.
Und alles wurde dunkel und still.
Er trat aus dem Spiegel, und die dunkelhäutige Schönheit, die jetzt seine Hand losließ, betrachtete ihn neugierig.
»Was war das?«, keuchte er.
»Ein stymphalischer Vogel«, sagte die Frau, »aber das ist jetzt nicht so wichtig.« Sie war älter als Danny, vielleicht Ende vierzig, es war schwierig zu schätzen. Sie trug Holzschmuck an Ohren, Nase und Händen. Ihre Zähne waren so schwarz wie ihre Haut, und sie roch, als hätte sie soeben eine nicht gerade kleine Handvoll Tabak gekaut. »Ich bin Calypso«, sagte sie und zwinkerte ihm aus Augen zu, die geschminkt und dunkel wie das tiefste Meer waren. »Du bist in Sicherheit.« Sie sprach einen Cajun-Dialekt, der amerikanische Worte mit exotischer Intonation zerfließen ließ.
»Wo bin ich?« Er sah sich um.
Was war das hier?
»Du hast den Ausgang gefunden.« Die Kleider, die sie trug, waren alt und schäbig, aber ihr Inhalt, davon war er überzeugt, war wunderschön und biegsam wie die Fantasie einer Katze.
Er sah sie fragend an. Betrachtete seine Hände. Sie waren nicht mehr alt und faltig, nein, dies hier waren wieder seine Hände. Die Kleidung, die er trug, gehörte ihm. Das waren nicht mehr die Klamotten des Fremden ohne Namen.
Die Gewissheit ergriff rasend schnell Besitz von ihm.
Ich bin wieder Danny Darcy.
»Was immer du eben gesehen hast«, säuselte sie mit einer Stimme, die voller Verheißungen war, »es ist jetzt wieder alles so, wie es sein sollte.«
»Ich war ein alter Mann«, erinnerte er sich. Sorgen und Qual dieses anderen Lebens fielen von ihm ab, doch ein bitterer Geschmack blieb, wie eine Narbe, die niemals ganz verheilen und ewig als Schatten die Haut überziehen wird. Er schaute auf. »Sie haben mich gerettet.«
»Vor dem stymphalischen Vogel, ja, ich weiß.«
Er drehte sich um.
Ein großer Spiegel stand hinter ihm.
Calypso hielt ihre Hand hoch und bewegte die Finger. »Ein Griff dort hinein«, sagte sie, »und du warst hier.« Sie lächelte geheimnisvoll. »Vielleicht wärst du sonst gefressen worden, wer kann das schon sagen?«
Danny war verwirrt. War er durch diesen Spiegel gekommen? Er erinnerte sich an die Hand, die aus dem brackigen Wasser emporgestiegen war und ihn gepackt hatte.
»Welcher Tag ist heute?«
Sie sagte: »Freitag.«
»Und gestern?«
Langsam trat sie auf ihn zu. »War Donnerstag, würde ich sagen.«
»Nein, ich meine...«
»Du bist gestern im Maison Rouge angekommen. Es ist nur ein Tag seit deinem Aufbruch vergangen.« Ihre Stimme war wie Gesang, nur viel, viel schöner.
»Es kam mir länger vor.« Er spürte die Last der vielen Jahre, die er mit der Suche verbracht hatte. Meine Güte, es war
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