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Lyra: Roman

Lyra: Roman

Titel: Lyra: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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nur eine einzige Nacht gewesen, und doch erinnerte er sich an die Gefühle eines halben Lebens.
    »Ich weiß, das passiert manchmal«, säuselte die Frau. Ihr Kleid raschelte leise, wenn der Saum über den Holzboden schleifte.
    »Und wer sind Sie?«
    »Ich bin Calypso«, wiederholte sie. »Die dritte Schwester.« Sie grinste. »Ich bin ausgezogen, könnte man sagen.« Sie streckte ihm die Hand hin, und er ergriff sie. »Calypso Fontaine.«
    »Danny Darcy«, sagte er.
    Sie antwortete: »Ich weiß.«
    Danny starrte sie an wie einen dunklen Traum. Dann wieder den Raum, in dem er sich befand. Er wirkte wie ein Salon, elegant und schäbig zugleich. Staub bedeckte die zahlreichen Tische und Stühle.
    »Dies war einst der Speisesaal.«
    »Wovon?«
    Sie lächelte leise. »Sie haben dich losgeschickt, damit du ihnen die Lyra bringst, nicht wahr?« Sie wirkte neugierig, begierig darauf, etwas von ihm zu erfahren.
    »Ja.«
    Sie trat auf ihn zu. »Du hast sie gefunden.«
    Resigniert sagte er: »Nein, habe ich nicht.«
    Sie nickte, lachte breit. »O doch, Danny Darcy, das hast du.« Sie berührte seine Schläfe mit dem Finger.
    »Wo bin ich?«, fragte er noch einmal.
    »Auf der Floating Belle.« Sie ergriff seine Hand. »Komm!«
    Er folgte Calypso nach draußen.
    »Wow«, entfuhr es ihm, als er das Deck betrat.
    »Mein Heim.«
    Die Sonne stand hoch am Himmel, erhitzte die Welt zu einem Ort, der gleißend und unwirklich war.
    Er befand sich auf einem uralten Schaufelraddampfer, der gestrandet in einem Bayou lag. So lange musste er schon an diesem Ort liegen, dass die Natur selbst die Zeit gefunden hatte, ihn als ihresgleichen zu beanspruchen. Dichte Ranken wickelten sich um die Schornsteine, Spanisches Moos bedeckte die Wände, Pflanzen wucherten an den Geländern. Die Farbe war vom Holz abgeblättert, und alles, was aus Metall war, rostete vor sich hin. Es war ein Dampfer, der langsam zerfiel. Ein Überbleibsel jener Welt, die einmal der große alte Süden gewesen war.
    Danny und Calypso standen an der Reling, die wie ein Balkon war. Efeu rankte sich um das Geländer.
    Der Dampfer war zwei Stockwerke hoch und sah aus wie die Dampfer aus den Filmen und Geschichten, die Danny als Kind gemocht hatte.
    Über das Unterdeck liefen zwei große Alligatoren.
    »Das sind Nero und Brutus«, sagte Calypso.
    Danny staunte. »Wirklich?«
    »Ich bin manchmal ins Kino gegangen, als ich klein war.« Sie zog die Augenbrauen hoch. »Ich habe diesen Film so geliebt.« Verträumt blickte sie in die Ferne. »Daher die Namen.« Sie zwinkerte ihm zu.
    Die Alligatoren glitten von einer Rampe ins dunkle Wasser des Bayou. Ihre schuppigen Rücken waren zwischen den Wasserpflanzen noch geradeso zu erkennen.
    »Das, was wirklich gefährlich ist«, bemerkte Calypso, »schwimmt still unter der Oberfläche.«
    »Wer sind Sie?«, fragte Danny. »Und warum haben Sie mich gerettet?«
    »Geduld, Geduld.« Sie lehnte sich gegen das Geländer und räkelte sich, ließ ihn dabei nicht aus den Augen. »Sag, bin ich eine Versuchung für dich? Hm? Würdest du nicht gern Dinge mit mir tun, für die du dich später schämen würdest?«
    Danny trat zurück. Der Anblick ihrer nackten Schultern war betörend, der Rest, das wusste er, würde ihm den Verstand rauben können, ließe er es nur einen Augenblick lang zu.
    »Sie sind wunderschön«, sagte er, und es war nicht einmal eine Lüge.
    »Du hast eine Frau, nicht wahr? Drüben im Maison Rouge.«
    »Ja. Ich muss zu ihr.« Ihm fiel auf, dass er keine Ahnung hatte, wo genau er hier war. Wenn ihm diese Frau nicht helfen würde, dann käme er nie wieder zum Maison Rouge zurück.
    »Du willst sie retten?«
    Sein Hals war trocken. »Ja.«
    Calypso kam auf ihn zu. Ihr Gesicht war seinem ganz nah. »Soll ich für dich singen, hm?«
    Er wandte sich von ihr ab. »Ich muss zurück.«
    Sie hielt inne. »Wir Sirenen sind seltsame Wesen, nicht wahr?« Sie sprach jetzt schneller.
    »Alles hier ist seltsam.«
    Sie dachte darüber nach. »Ich habe eine Tochter«, sagte Calypso, »und doch bin ich allein.«
    Danny wusste nicht, was er sagen sollte.
    Er erinnerte sich an die Geschichte von dem Biologen, die Lafitte ihnen erzählt hatte.
    »Wir leben schon sehr lange«, erklärte Calypso. »Ja, so unendlich lange. Und wir haben so viel Schlimmes über die Welt gebracht.« Sie klang traurig.
    »Warum bin ich hier?«
    »Du musst dir meine Geschichte anhören«, säuselte sie. »Zuhören ist wichtig. Nur durch die Geschichten, die andere erzählen,

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