M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)
Mittleren Ring entlang bis zur Schwanseestraße. In der »Scharfreiter Alm« brannte noch Licht, und Süden überlegte reinzugehen. Was für ein entschlossenes Traumbier schließlich eindeutig zu lang dauerte.
Sie traute ihm nicht. Er war ein ehemaliger Polizist und hatte sie gestern überrumpelt und in ein schlechtes Licht gerückt. Der andere, ältere Polizist musste von ihr denken, sie sei eine Spionin und stünde den ganzen Tag hinter der Tür. So eine war sie nie gewesen, auch wenn Erich, ihr Mann, sie stets angewiesen hatte, wachsam zu bleiben und Schritte und Stimmen auch auf die Entfernung unterscheiden zu lernen. Wenn sie ihm vorwarf, er würde unter Verfolgungswahn leiden, meinte er, im Gefängnis müsse jeder auf sich selber aufpassen und es sei immer klug, Dinge zu antizipieren. Die Bedeutung des Fremdworts blieb ihr weitgehend verborgen. Zeit seines Lebens hatte sie sich gefragt, wo er es her hatte, traute sich aber nie, ihn danach zu fragen. Alles, was sie begriffen hatte, war, dass es etwas mit »vorher was wissen, was andere nicht mal ahnen« zu tun haben musste, wie Erich sich ausdrückte. Eigentlich fand sie, dass antizipieren nach dem Gegenteil von etwas klang. Aber so wichtig war das Wort dann auch wieder nicht.
Nun stand dieser Süden wieder vor ihr und schaute aus seinen grünen Augen auf sie herunter, als könne er kein Wässerchen trüben. Irrtum, dachte Rosa Weisflog, dieser Mann war ein Feind im Sinne ihres verstorbenen Mannes, und ein Feind blieb ein Feind auch über den Tod hinaus. »Ich mach das nicht«, sagte sie, den Kopf im Nacken, die Lippen aufeinandergepresst.
»Ich bitte Sie darum, Ihr Nachbar ist vermutlich in großer Gefahr.«
»Ihr Kollege sucht nach ihm und kümmert sich schon um die Wohnung.«
»Er ist nicht mein Kollege«, sagte Süden. »Er will uns beide austricksen, er spielt ein doppeltes Spiel.«
Die alte Frau klopfte mit der rechten Faust auf ihre Hüfte. »Polizisten spielen alle dasselbe Spiel, machen Sie mir nichts vor. Ich möcht, dass Sie gehen und nicht wiederkommen.«
»Ich gehe nicht.« Er stand vor der geschlossenen Küchentür, die zum Treppenhaus führte. Es war halb acht Uhr morgens, und er war überzeugt, dass um diese Zeit noch niemand das Haus überwachte. Im Lauf des Vormittags würde Welthe zwei Kollegen in einem Zivilfahrzeug schicken, und sie würden darauf warten, dass jemand auftauchte, der in Kontakt mit Siegfried Denning stand, oder wie immer der Mann hieß. Vermutlich traute Welthe ihm, Süden, auch einen Einbruch zu, allerdings nicht so früh am Tag.
Seinen ersten Einbruch hatte er bereits erledigt. Als Rosa Weisflog die Wohnungstür vorsichtig öffnete, zwängte er sich durch den Spalt, nahm die Hand der Frau von der Klinke und drückte die Tür von innen zu. Dann entknotete er seinen Schal, öffnete den Reißverschluss seiner Jacke und faltete die Hände vor dem Bauch. Rosa war so verblüfft, dass sie ihren Mund nicht zubrachte. Er entschuldigte sich und erklärte ihr, was er vorhabe. Ihr Blick war erfüllt von Misstrauen und einer Brise Verachtung. Ihr Kleid gefiel ihm, es war hellgrün mit roten und gelben Punkten, die aussahen wie Sonnen oder Monde. Sie hatte ihre grauen Haare hochgesteckt und roch nach einem Parfüm, das Süden minzig vorkam. Nachdem sie sich etwas beruhigt hatte, wich sie keinen Zentimeter zur Seite. Als er keine Anstalten machte, irgendetwas zu tun, verschränkte sie die Arme und starrte auf sein weißes Hemd.
»Ich bin kein Polizist mehr«, sagte er. Sie reagierte nicht. »Der Polizist, der gestern oben eingebrochen ist, arbeitet beim Landeskriminalamt, er ist zuständig für verdeckte Ermittler.« Verdeckte Ermittler, dachte Rosa, waren die Erzfeinde. Das hatte Erich sie ganz am Anfang seiner Karriere gelehrt, und sie hatte es nicht vergessen. Schon der Name verursachte ihr einen Brechreiz. »Und Herr Denning ist ein verdeckter Ermittler, der unter Neonazis ermittelt. Es kann sein, dass er in eine Falle geraten ist. Der Polizist, den Sie meinen, Ralph Welthe, sagt nicht die Wahrheit. Er fürchtet, ich könnte mehr herausfinden, als ihm recht ist. Wir müssen Herrn Denning helfen, Frau Weisflog. Vielleicht ist er von Neonazis entführt oder sogar schon ermordet worden.«
»Wieso sagen Sie Neonazis?«
»Bitte?«
»Was ist der Unterschied zwischen Neonazis und Nazis?«
»Wir leben nicht mehr im Nationalsozialismus«, sagte Süden.
»Und deswegen gibt’s keine Nazis mehr, nur noch Neonazis?«
Süden
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